Das Tier
ihre Motivskizzen benutzte sie minderwertiges Papier, an dem sich Cyrian nun bedienen durfte.
Thars beobachtete aufmerksam jeden einzelnen Strich seines Schülers. Cyrian hatte sich gefreut und überschwänglich bedankt, als Thars ihm das Geld gegeben hatte. Doch da war ein kaum merkliches Zögern gewesen, ein Hauch von Erschrecken und schlechtem Gewissen in seiner Witterung. Und obwohl er völlig entspannt wirkte, konnte er eine gewisse Unruhe und Zurückhaltung nicht vor Thars verbergen. Sein armer Engel. Die Gardisten hatten ihm schwer zugesetzt … Vermutlich rührte das schlechte Gewissen daher, dass Thars sich nur für ihn der Gefahr, entdeckt zu werden, ausgesetzt hatte. Genauer wollte er es nicht erforschen, er bemühte sich sogar, seine Gabe zurückzuhalten. Er quälte sich bloß selbst damit.
Ich vergöttere ihn. Cyrian ist kein Heiliger. Nein, er ist süß. Viel zu süß und unschuldig für eine Bestie wie mich. Und er, er sieht mich als Helden.
Thars seufzte innerlich. Aus genau diesem Grund hatte er noch keine Anstalten gemacht, Cyrian zu verführen. Er wollte den Jungen nicht benutzen, so wie alle anderen es getan hatten. Er wollte nicht, dass Cyrian sich ihm aus Dankbarkeit hingab, wie bei Doktor Lerome. Vom Alter her würden sie durchaus gut zusammenpassen, Thars war lediglich vier Jahre älter. Doch er wollte kein niedliches Kätzchen hätscheln, wenn er sich einen Partner wählte. Er war viel zu groß und massig für den Jungen, in jeder denkbaren Hinsicht; gleichgültig, wie erfahren der Kleine war, er könnte ihn nicht ohne Verletzungen aufnehmen. Ein Mann, der mit einem Tier wie ihn zusammenlebte, müsste stark genug sein, ihm auf Augenhöhe begegnen können.
Ich werde fortgehen. Heimlich. Das ist das beste für alle, ich bringe sie bloß in Gefahr. Ich will nicht für den Rest meines Lebens von der Güte dieser Menschen abhängig sein! Allein kann ich den Familienbesitz nicht verwalten, sofern noch etwas davon übrig ist, ich bräuchte einen Partner. Jemanden, der die Bankgeschäfte und alles andere übernimmt, damit ich nicht mit Menschen zusammenstoße und noch mehr Morde begehen muss … Irgendwo in der Fremde wird es Arbeit für mich geben. Und wenn ich Kisten schleppe oder in eine Mine absteige. Brudfor, Vater würde sich im Grabe umdrehen!
Der Gedanke, Cyrian zurückzulassen, brach ihm fast das Herz. Noch ein Grund, so bald wie möglich zu verschwinden. Mit jedem weiteren Tag verliebte er sich mehr in seinen süßen Engel.
„Schau nur, das a sieht schon richtig gut aus, nicht wahr?“ Stolz präsentierte Cyrian das Ergebnis seiner Mühen und glich dabei viel zu sehr einem Schuljungen. Thars verbarg sein Herzensleid und lobte ihn, wofür er ein strahlendes Lächeln erntete.
Er ließ ihn das Alphabet schreiben, bis Cyrians Finger wund waren. Gewiss würde Melva das Lehren übernehmen und Doktor Lerome sorgte dafür, dass der Kleine einen ordentlichen Beruf erlernte, auch ohne Studium.
Heute Nacht gehe ich fort. Ein Abschiedsbrief, der alles erklärt, damit sie mich nicht suchen. Ein letztes Gespräch mit Stian, um abschließen zu können. Morgen um diese Zeit hat mein neues Leben bereits begonnen.
Das war klug. Vernünftig. Verantwortungsbewusst. Und zugleich die furchtbarste Entscheidung, die Thars jemals getroffen hatte.
Thars versiegelte den Brief mit Kerzenwachs, legte ihn auf sein Bett und blickte sich ein letztes Mal um. Er nahm nichts mit, wollte Doktor Lerome nicht auch noch bestehlen, nachdem dieser ihm so viel geschenkt hatte. Mit etwas Glück würde er Stian überreden können, ihm zurückzugeben, was er zweifellos als so genannter Vermögensverwalter von Thars geraubt hatte. Stian … Er war Thars’ Pate gewesen. Sein Vater hatte Stian testamentarisch angewiesen, immer für Thars da zu sein. Blind hatte er diesem Mann vertraut, blind!
Das einzige, was Thars mitnahm, war ein Fetzen von Cyrians Hemd, das die Gardisten zerrissen hatten. Er wollte den süßen Duft seines Engels in der Fremde bei sich haben und daran Trost finden.
Nun raus mit dir, die Nacht wird nicht jünger!
Es war fast ein Wunder, dass Doktor Lerome noch keine Bretter vor Thars’ Fenster genagelt hatte, so oft, wie er in den letzten Nächten dort ein- und ausgestiegen war. Nun gut, er hatte es sicherlich zumeist nicht bemerkt.
Der milde Regen, der Thars empfing, war überraschend wohltuend. Regen dämpfte die Gerüche der Welt und sorgte dafür, dass die Straßen leer blieben.
Bis zu Stians Haus
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