Das Tier
verdrängte rasch die aufkommenden Bilder. Wenn er an diesen Namen dachte, sah er Blut. Viel Blut. Tymon hatte seine Opfer am grausamsten von allen gefoltert.
„Worauf ich hinaus will, mein Junge: Die anderen sind wahrhaftige Tiere geworden. Tollwütige Tiere. Monster ohne Gnade, ohne Seele, die ihre körperlichen Veränderungen genutzt haben, um hilflose Menschen zu jagen und auf sadistische Weise umzubringen. Du hingegen … Du warst immer ein stiller Junge gewesen. Ein Beobachter, der ständig nachgedacht und analysiert hat. Kein brillanter Kopf, nein, deswegen hatte dein Vater dich mit Verachtung überschüttet – gleichgültig, wie sehr ich versuchte, ihn davon abzuhalten. Du hast dich als wertlos empfunden, allen anderen unterlegen. Ich erinnere mich, wie du einmal zu mir sagtest, dass du dir eine besondere Gabe wünschtest. Die Fähigkeit, in die Köpfe anderer hineinzusehen, um ihre Gedanken zu verstehen. Um die Fragen deines Vaters beantworten zu können, selbst wenn du nicht so höchstgradig begabt warst, wie er es wollte.“
Oh Brudfor, das hatte Thars vergessen gehabt. Ja, er hatte sich als Kind gewünscht, hellsehen zu können, und was war sein Gabe des Riechens anderes als genau das?
„Dein wichtigster Charakterzug aber war dein Gerechtigkeitssinn, Thars. Du konntest es nie ertragen, wenn jemandem Unrecht angetan wurde.
Und nun schau, was das Mittel aus dir gemacht hat: Deine Sinne sind so geschärft, dass du vielleicht nicht die Gedanken der anderen lesen kannst, ihre Gefühle hingegen schon. Du bist wie die anderen körperlich unglaublich stark geworden, doch die Kontrolle verlierst du ausschließlich dann, wenn furchtbares Unrecht geschieht, nicht wahr? Also noch einmal: Was für ein Mensch ist dein junger Freund? Denke gut nach, denn möglicherweise ist es besser, wenn wir ihn töten, bevor er zu einem Monster wird, das gejagt werden muss … Er ist ein Liebesdiener, er muss zwangsläufig verbittert und innerlich wie tot sein, voller Hass auf die Männer, die ihn missbraucht haben. Willst du, dass er Rache an seinen Peinigern nimmt?“
Stian wich erschrocken zurück, denn etwas blitzte bei seinen Worten gefährlich in Thars’ Augen auf. Plötzlich, als wäre ein Schalter umgelegt worden, wurde er von einem furchteinflößenden Wesen gemustert. Das war nicht mehr Thars. Das hier vor ihm war das Tier. Oder zumindest beinahe. Das drohende Knurren, das aus Thars’ Kehle drang, raubte ihm schier den Atem. Vielleicht hätte er die Monsterjagd nicht erwähnen sollen. Schon einmal hatte er das Augenmerk seines Patenkindes ganz bewusst auf die wahnsinnig gewordenen Valorsaner gelenkt, um sie zu eliminieren, bevor diese ungewollt das Geheimnis um Evolution 4 preisgaben. Genau das hatte Thars sieben Monate Haft eingebracht. Und exakt darauf sprang sein wildes Gegenüber auch an.
„Töten“, grollte das Tier schaurig. „Töten ist alles, was ihr vermögt. Und wenn ihr nicht selbst töten könnt, dann schafft ihr Wesen wie mich, die das Morden für euch übernehmen.“ Schritt für Schritt kam das Tier auf ihn zu, bis es schützend zwischen ihm und dem bewusstlosen Jungen stand.
„Es tut mir so leid“, wimmerte Stian. „Bitte glaube mir doch, es tut mir so leid.“
„Ich habe dir vertraut, Stian, mein Leben lang. Und jetzt sieh mich an. Sieh, was aus mir geworden ist! Glaubst du, es macht mir Freude zu riechen, wie du aus jeder einzelnen Pore Angst ausschwitzt? Zu fühlen, wie schwarz deine Gedanken sind, die sich einzig und allein um deine wahnwitzigen Experimente drehen? Ich habe euch Valorsaner einst bewundert, für eure Hartnäckigkeit, eurem Drang, angeblich der Menschheit dienen zu wollen. Dabei wolltet ihr nur euren eigenen Egoismus befriedigen. Koste es, was es wolle. Aber dieser Junge, dieser Engel, Stian, der wird nicht getötet. Der ist anders, als alle Liebesdiener, die du kennen könntest. Und ich werde dafür sorgen, dass ihr Valorsaner ihn nach seiner Wandlung nicht in die Finger bekommt. Er gehört mir und nicht euren grausigen Forschungen. Er wird keine eurer Laborratten werden, nur damit ihr seine neuen Fähigkeiten testen könnt. Nicht Cyrian. Du brauchst gar nicht erst nach einer Ausrede suchen, Stian, ich kann deine abartigen Ideen wirklich riechen.“
Stian starrte den massigen Mann vor sich an. Vor einigen Monaten erst, hatte Thars genauso leidenschaftlich vor ihm gestanden und darum gebeten, eine der Testpersonen für Evolution 4 zu werden. Er hatte einen Sinn in
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