Das Trauma
eingewickelte Paket an, das auf meinen Knien liegt. »Blasen und Kneten«, steht auf dem Etikett. Langsam ziehe ich die schwarze geteerte Schnur ab, die nach sommerlichem Hafen riecht, und breite das Papier auseinander. Es ist eine kleine Keramikvase von Kleinblå. Ein wenig wie die, die Kattis in der Praxis zerbrochen hat, damals, als sie in das Therapiezimmer gestürzt ist, um von Susannes Tod zu berichten. Ich behalte die Vase einige Sekunden lang auf den Knien und weiß nicht, wie ich reagieren soll.
»Warum …?«
Sie hebt die Handfläche, wie um gegen etwas zu protestieren, um meine Worte mit ihren bloßen Händen aufzuhalten.
»Es ist wichtig für mich, bitte. Nehmen Sie es!«
Ich nicke und sehe sie an, und plötzlich sieht sie so traurig aus, wie sie mir da gegenübersitzt, in der dicken grauen Jacke mit der Kapuze. Ich stelle die Vase vorsichtig vor mir auf den Tisch, sehe, wie sie sich in der glänzenden Tischplatte spiegelt.
Dann schaut Kattis plötzlich auf, über meine linke Schulter. Runzelt die Stirn, sieht gequält aus.
»Ja? Was?«
Ich drehe mich um und sehe hinter mir einen Jungen von vielleicht zwanzig. Er trägt abgewetzte Jeans und eine Kapuzenjacke. Seine dunklen halblangen Haare hängen wie ein Vorhang über seine Augen, und er weicht meinem Blick aus. Mit einer Hand spielt er mit einer Münze.
»Können wir reden?«
Seine Stimme ist dunkel und heiser – als hätte er die ganze Nacht Rock gesungen und geraucht, und sein Blick haftet noch immer am Boden.
»Das geht jetzt nicht, Tobias. Du musst ein wenig warten. Ich habe Besuch.«
»Äh. Okay.«
Aber statt zu gehen, setzt er sich an den Tisch. Ein unbehagliches Schweigen breitet sich aus. Ich lese kleine Krümel von dem Perlzucker auf, der von den Zimtschnecken gefallen ist, sammele sie in der Hand und esse sie, einen nach dem anderen.
»Tobias …«, beginnt Kattis.
»Ist schon gut«, sage ich, aber sie schüttelt den Kopf.
»Ich muss noch ein wenig mit Siri sprechen. Du musst dich so lange auf ein Sofa im Eingang setzen, okay?«
Zum ersten Mal erwidert er Kattis’ Blick, und die Art, wie er sie ansieht, hat etwas Verletztes, Gekränktes. Als hätte sie ihn durch ihre Abweisung beleidigt. Aber eine Sekunde darauf schaut er wieder die Tischplatte an, zuckt mit den Schultern. Dann richtet er seinen schlaksigen Körper auf und trottet zum Eingang hinüber, ohne sich umzudrehen.
»Entschuldigung«, sagt Kattis.
»Sie brauchen nicht um Entschuldigung zu bitten, Herrgott, das ist doch Ihr Job.«
Sie redet weiter, ohne auf meinen Kommentar zu achten:
»Tobias ist einer der Jungen, die ich betreue. Er ist wirklich seltsam. Und ein wenig verliebt in mich, glaube ich.«
Sie kichert.
»Vielleicht sollte ich mich an ihn halten, dann hätte ich jedenfalls einen lieben Typen.«
Sie lacht und schüttelt den Kopf und sieht fast liebevoll aus. Wie eine Mutter oder große Schwester.
Plötzlich bin ich neugierig auf Kattis’ Arbeit, möchte mehr darüber erfahren.
»Was macht ihr eigentlich hier im Jobcenter? Ich weiß ja, dass Sie Sachbearbeiterin sind. Aber was bedeutet das rein praktisch gesehen?«
»Das Jobcenter ist ein Angebot für junge Erwachsene, die aus irgendeinem Grund keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Sie können zum Beispiel eine Behinderung haben, lange arbeitslos gewesen oder auch lange krank gewesen sein. Wir treffen uns mit unseren Klienten und stellen einen Handlungsplan auf, bei dem es um allerlei Dinge gehen kann, zum Beispiel um Fortbildung oder eine Liste der Arten von Arbeit, um die sie sich bewerben sollen. Dann helfen wir ihnen bei der Arbeitssuche. Wir helfen, Lebensläufe und Briefe zu schreiben und so. Wir werden vom Staat finanziert, gehören aber zu einer Stiftung.« Plötzlich steht eine dunkelhäutige junge Frau am Tisch. Sie trägt ein Batikkleid und hat ihre Dreadlocks zu einem hohen Knoten hochgesteckt. Ihre Miene ist verbissen, wütend.
»Entschuldige die Störung. Aber, Kattis, es ist etwas passiert.«
»Was?« Kattis hebt die Augenbrauen.
Die Frau seufzt und sieht mich verlegen an, flüstert dann aber so laut, dass ich es hören kann.
»Es geht um Muhammed …«
»Ja?«, fragt Kattis ungeduldig, und ich frage mich, ob sie vielleicht die Vorgesetzte dieser Frau ist.
»Er hat den ganzen Dreck abgefackelt.«
»Was? Was ist passiert?«
»Offenbar war mit dem Schweißgerät etwas nicht in Ordnung. Ich weiß nicht, vielleicht war es nicht seine Schuld. Aber sie behaupten, er hätte es
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