Das Trauma
absichtlich getan. Er ist jetzt auf dem Weg hierher.«
»Aber klar war das seine Schuld.« Kattis seufzt, steht auf, legt der Frau die Hand auf den Arm, drückt ein wenig. »Das kommt schon in Ordnung, ich kümmere mich darum. Hast du die Nummer von der Firma, wo er beschäftigt ist?«
Die Frau nickt und lächelt erleichtert.
»Danke. Das finde ich toll von dir. Echt.«
Kattis lächelt strahlend.
»Das ist doch mein Job. Ich rede mit Muhammed, wenn er kommt.«
Dann dreht sie sich zu mir um. »Das ist einer von unseren Klienten. Wir hatten schon ziemliche Probleme mit ihm. Ja, Sie haben es ja selbst gehört. Er hat …«, sie zögert, »… einen unangenehmen Hang dazu, Dinge anzustecken. Es passiert nicht zum ersten Mal. Wir können vielleicht mal darüber reden? Sie als Psychologin können mir vielleicht erklären, warum er so was tut?«
Sie verstummt und macht sich an ihren Haaren zu schaffen, ehe sie weiterredet.
»Es tut mir leid, ich muss mich jetzt wohl darum kümmern. Und vielleicht sollte ich zuerst mit Tobias reden, also …«
»Das ist nur gut so. Ich muss ohnehin wieder an die Arbeit.«
Erst, als ich im Regen auf der St. Eriksgata stehe, fällt mir ein, dass ich die kleine Vase auf dem Tisch in der Teeküche vergessen habe. Ich mache kehrt, gehe zurück ins Treppenhaus und öffne die Tür.
Vor mir, auf dem roten Besuchersofa, sitzt Kattis sehr dicht bei einem dunkelhäutigen langhaarigen Jungen in Blaumann und blendend weißen Turnschuhen. Seine Hand ruht in ihrer, und ihr Gesicht wirkt verbissen.
Er sieht mich überrascht an, als ich komme, reißt seine Hand zurück.
»Die Vase«, murmele ich. Plötzlich überkommt mich das seltsame Gefühl, mich aufzudrängen, eine private Situation zu stören.
»Das ist Muhammed«, sagt Kattis.
Der langhaarige Junge grüßt nicht, er starrt demonstrativ seine Schuhe an und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich sehe ihn an, und in mir nimmt ein Gedanke Gestalt an: Etwas stimmt nicht mit diesem dunklen Jungen, da war etwas mit Schweißen und Bränden, aber ich kann mich nicht erinnern. Und dann ist der Gedanke verschwunden, er gleitet wie Wasser durch meine Hände. Unmöglich, ihn festzuhalten.
Kattis lächelt, geht hinein und holt die kleine blaue Vase, ohne noch mehr zu sagen. Und noch einmal staune ich darüber, wie sicher und gelassen sie in ihrer Arbeitsrolle wirkt. Wie sehr ihre Klienten und ihre Kolleginnen sie zu schätzen scheinen.
Dann umarmen wir einander noch einmal, und ich gehe durch die herbstliche Dunkelheit zum Medborgarplatz.
Irgendwo in der Nähe von Stockholm, November
Sie sitzt neben ihm auf dem Sofa, in dem witzigen Raum mit den vielen alten, verstaubten Möbelstücken. Es erinnert ein bisschen an das Puppenhaus, das sie bei Mama zu Hause hat. Die Möbel stehen wild durcheinander und manchmal auch auf dem Kopf, oder sie sind aufeinandergestapelt wie Konservenbüchsen in einem Schrank. Er hat ihr ein Eis gegeben, und das isst sie schweigend, sie versucht, nicht zu schlabbern, damit er nicht böse wird. Er will nicht, dass sie Geräusche macht. Er will auch nicht, dass sie kleckert. Oder spricht. Am besten, sie sitzt ganz still und bewegungslos da, damit er nicht böse wird.
Sie denkt an Henrik, der sie zum Eisessen immer auf den Schoß nimmt und der nie böse wird, wenn sie kleckert. Nicht einmal, wenn das ganze Eis aus der Tüte rutscht und auf seiner Hose oder seinem Pullover landet. Dann lacht er nur und gibt ihr ein neues, auch wenn Mama widerspricht. Denn Eis ist gut für den Magen. Genau wie Bier.
Sie zieht die Beine unter das Nachthemd, um nicht so zu frieren. Aber das hilft nichts. Kalte Luft dringt unter das dünne Hemd, legt sich wie ein kaltes kleines Tier um ihren Körper. Wickelt sich um ihren Bauch, ihre Beine, ihren Brustkorb.
Sie kann nicht dagegen an, ihre Finger werden klebrig, als das Eis schmilzt und anfängt zu trocknen, und sie mustert ihn forschend, ehe sie sich die Hände am Hemd mit dem Bild von Dora abwischt. Aber er sieht es nicht, er raucht nur und schaut aus dem dunklen Fenster, auf den strömenden Regen.
Draußen gibt es nur Wald.
Das weiß sie, er hat sie nämlich hinausschauen lassen, hat ihr erklärt, dass der Wald viele Dutzende Kilometer so weitergeht, dass sie verloren wäre, wenn sie hineinliefe. Dass niemand sie jemals wiederfinden würde und dass Raben und Krähen sie am Ende fressen würden, weil die immer Hunger haben und außerdem finden, dass kleine Kinder unheimlich lecker
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