Das Trauma
für den Mord an Susanne ein Alibi. Weshalb hätte er Tilde dann entführen sollen? Er kann doch Susanne nicht ermordet haben. Und wie wir die Sache auch drehen und wenden, offenbar hängt alles mit diesem ersten Mord zusammen, dem an Susanne.«
Vijay nimmt noch eine Serviette von seinem Schreibtisch, knüllt sie zu einem kleinen Ball zusammen und wirft sie zu mir und meinem Papierstapel auf dem Boden. Ich fange den Ball auf und rede weiter:
»Die Polizei kämmt Susannes Bekanntenkreis durch. Spricht mit alten Kollegen, ihrer Verwandtschaft. Ich glaube, sie haben nichts gefunden.«
»Es kommt mir so vor, als ob wir etwas übersehen hätten«, sagt Vijay. »Rein statistisch gesehen müsste Susannes Mörder jemand sein, der ihr nahesteht. Die meisten Morde werden im engsten Beziehungskreis begangen. Auch die Art des Mordes weist darauf hin. Sie wurde durch Tritte getötet. Tritte ins Gesicht. Das ist ungeheuer brutal. Und überaus persönlich. Scheint anzudeuten, dass der Täter starke Gefühle für sie hatte, oder vielleicht sollte man sagen, gegen sie.«
Wieder putze ich mir die Nase.
»Was glaubst du also?«
Vijay klopft mit dem Kugelschreiber auf den Schreibtisch.
»Ich glaube, wir sollten von dem vorstellbaren Motiv ausgehen.«
»Also?«
»Nun, wenn stimmt, was Kattis sagt, dass Henrik Frauen misshandelt, dann gibt es gute Gründe, ihn zu verdächtigen.«
»Aber er war doch in der Kneipe.«
»Behaupten er und seine Kumpels, ja.«
Ich denke eine Weile über diese Aussage nach. Wenn Henriks Alibi falsch ist. Wenn seine Freunde lügen … es könnte stimmen. Die grobe, sinnlose Gewalt. Der Hass. Das passt zu so einem Täter.
»Aber die Polizei muss das doch überprüft haben? Ob das Alibi stimmt.«
»Ja, sicher. Ich versuche nur, mögliche Erklärungen dafür zu finden, was passiert sein kann. Dann haben wir die Raubmordtheorie. An die glaube ich überhaupt nicht. Die Vorgehensweise stimmt einfach nicht. Falls keine Drogen im Spiel sind. Dann haben wir noch den Vater. Tildes biologischen Vater, meine ich. Der hatte vielleicht Gründe, Susanne zu hassen, was weiß ich? Ich vermute, die Polizei hat ihn genauer unter die Lupe genommen?«
»Das weiß ich eigentlich gar nicht.«
»Sicher haben sie das. Er ist doch ein naheliegender Verdächtiger.«
»Aber Tildes Vater kann sie ja wohl kaum entführt haben. Sie ist doch aus seiner Wohnung verschwunden.«
»Behauptet er, ja. Es ist aber nicht ganz ungewöhnlich, dass Eltern, die ihre Kinder umbringen, behaupten, die seien entführt worden.«
»Aber Herrgott.«
Vijay macht eine resignierte Handbewegung.
»Es tut mir leid, Siri, aber so ist die Welt nun einmal. Und je schneller wir uns das klarmachen und uns wirklich der Weise nähern können, in der diese Menschen denken und handeln, desto leichter können wir sie davon abhalten. Und übrigens, wer behauptet, sie sei entführt worden?«
»Aber sie ist doch durch das Fenster verschwunden. Mitten in der Nacht.«
Vijay deutet ein Lächeln an.
»Sie ist vielleicht weggelaufen?«
»Warum sollte sie? Eine Fünfjährige klettert ja wohl nicht mitten in der Nacht aus dem Fenster …«
»Falls nicht …«
»Was?«
»Falls sie ihrem Vater nicht weglaufen wollte. Vielleicht hatte sie aus irgendeinem Grund Angst vor ihm?«
Ich denke eine Weile über Vijays Worte nach. Könnte es möglich sein, dass Tilde die Wohnung ihres Vaters freiwillig verlassen hat? Nur mit dem Nachthemd bekleidet in Kälte und Finsternis geflohen ist? Es fällt mir schwer, das zu glauben.
Eine Sekunde lang spiele ich mit dem Gedanken, Vijay von Malin zu erzählen, beschließe aber, dass das keine Rolle spielt. Malin war am fraglichen Tag doch beim Marathon, und der Mord ist von einem Mann begangen worden. Der Tod ist ein Mann, denke ich.
Vijay rutscht auf seinem Stuhl hin und her, zieht seine Strickjacke enger um sich zusammen. Lehnt sich zurück. Legt seine Turnschuhe auf ein Buch über afrikanische Kunst, scheint das aber nicht zu merken.
»Glaubst du, sie lebt noch?«
»Wer weiß? Wenn jemand sie zum Schweigen bringen will, hat die Polizei jedenfalls nicht viel Zeit. Dann eilt es. Eilt ungeheuer. Oder ist vielleicht schon zu spät. Wenn Henrik sie entführt hat, wenn er Susanne nicht umgebracht hat und nur psychotisch ist, verwirrt, wenn er findet, sie sollte bei ihm sein, sind die Chancen größer.«
Ich spüre, wie meine Tränen wieder losströmen. Ein unschuldiges Kind entführt. Mit dem Tod bedroht. Ich kann nicht dagegen
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