Das Trauma
verschwunden. Irgendwer hat sie mitgenommen.«
»Wer? Von wem redest du? Wer ist verschwunden?«
»Tilde, du weißt, die Kleine, die den Mord an Susanne gesehen hat. Sie ist gestern Abend aus der Wohnung ihres Vaters entführt worden.«
Plötzlich bin ich hellwach. Trotz der Wärme im Haus friere ich. Etwas in meinem Bauch verkrampft sich, und mir wird schlecht.
Tilde. Die Kleine, die im Blut ihrer Mutter gesessen und gezeichnet hat.
Die kleine traumatisierte Tilde, die nur erzählen kann, dass ein Mann den Mord begangen hat.
Entführt.
Auszug aus einem Brief an das Sozialamt vom zuständigen
Betreuer des Erziehungsheims Säby
Der Klient ist ein 18-jähriger, der mit 14 Jahren nach Säby gekommen ist. Er war zeitweise auch in Pflegefamilien untergebracht, aber das lief nicht sehr gut. Meistens ist er dann zu uns nach Säby zurückgekommen. Seit der Klient hier bei uns wohnt, haben wir viel zu umwelttherapeutischen Ansätzen gegriffen. Der Klient hatte z.B. die Verantwortung für unseren Küchengarten, was er sehr gut bewältigt hat. Er hat auch verschiedentlich kreativ gearbeitet, wie Drama und Bild. Wir hatten ein wenig Probleme damit, den Klienten zu Studien zu motivieren, weshalb wir seine intellektuelle Kapazität nicht richtig beurteilen können, aber viele hier vom Personal halten ihn für ein wenig langsam, es fällt ihm schwer, weitreichende Instruktionen zu begreifen. Am besten kommt er in strukturierten Situationen zurecht, wo er mit praktischen Aufgaben beschäftigt werden kann. Er hat sich auch als künstlerisch überaus begabt erwiesen und zeichnet und malt gern. Wenn er in einer Pflegefamilie war, ist es oft zu Konflikten und bisweilen sogar Handgreiflichkeiten gekommen. Wir vermuten, dass es dem Klienten sehr schwerfällt, sich neuen Situationen anzupassen, und es ist auch deutlich, dass er sich in einer ruhigen Umgebung am wohlsten fühlt. Im Umgang mit den anderen Jugendlichen in Säby war der Klient ziemlich vorsichtig und ein wenig zurückhaltend. Er möchte mit anderen Jugendlichen zusammen sein und freut sich sehr über Aufmerksamkeit und Möglichkeiten, an der sozialen Gemeinschaft teilzunehmen. Gleichzeitig ist deutlich, dass er nicht so recht weiß, wie er sich zusammen mit Gleichaltrigen verhalten soll. Er wird leicht nervös und unsicher und kann auch aggressiv werden, vor allem dann, wenn er die Absichten seines Gegenübers missversteht. Der Klient muss jetzt aus Säby entlassen werden und in seine Heimatgemeinde zurückziehen. Vermutlich wird er dort in seinem Elternhaus wohnen, das nach dem Tod seiner Eltern in seinen Besitz übergegangen ist. Wir hier in Säby halten es für wichtig, dass der Klient nach seiner Entlassung weiterhin durch die Gemeinde betreut wird, da wir nicht glauben, dass er allein zurechtkommen wird. Wir empfehlen Kontakt zu einem Sozialarbeiter. Wir glauben auch, dass es ihm guttun könnte, den Weg ins Arbeitsleben zu schaffen, Kontakt zum Jobcenter ist deshalb von größter Bedeutung.
Peter Rundfeldt, zuständiger Betreuer
Ich sitze in Vijays Zimmer auf einem Stapel Untersuchungen und weine.
Tränen laufen über meine Wangen.
Vijay selbst sitzt auf seinem Stuhl und sieht besorgt aus. Ich weiß, was er denkt: dass es ein Fehler war, mir diese Selbsthilfegruppe anzuvertrauen, dass ich nicht stark genug bin, dass ich meine eigenen Traumata nicht von denen meiner Klientinnen unterscheiden kann. Dass die Vergangenheit mich schließlich doch eingeholt hat.
Ich würde ihm so verzweifelt gern das Gegenteil beweisen, aber stattdessen sitze ich also hier und weine.
Vijay legt einen Priem ein und räuspert sich.
»Aber es ist ja wohl kaum deine Schuld, dass jemand dieses Kind entführt hat, oder?«
Ich bringe keine Antwort heraus, schüttele nur den Kopf und putze mir geräuschvoll mit dem großen Papiertaschentuch, das er mir gegeben hat, die Nase. Dem Taschentuch, das sich langsam aber sicher in einen feuchten kleinen Ball verwandelt.
»Sie ist eine Zeugin«, sagt er nachdenklich, »das hat sogar in der Zeitung gestanden. Mit größter Wahrscheinlichkeit will der Täter sie … aus dem Weg räumen.«
Ich putze mir noch einmal die Nase und sehe ihn an.
»Es kann wirklich jeder sein. Markus sagt, dass sie keine Hinweise haben. Vor dem Fenster haben sie keine Spuren gefunden. Es hatte zu sehr geregnet, deshalb gab es keine Fußspuren oder so. Henrik ist untergetaucht, er könnte es also gewesen sein. Aber er hat ja eigentlich kein Motiv, schließlich hat er
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