Das Trauma
wir zum Ende kommen müssen. Das ist manchmal so, man ist gezwungen, aufzuhören, gerade, wenn etwas wehtut oder wichtig ist. Ich werde ja – wenn ich ehrlich bin – nur dafür bezahlt, mir jeweils sechzig Minuten ihre Bekenntnisse anzuhören. Also tue ich das, was ich schon so oft getan habe, ich fasse die Lage zusammen, gebe ihnen für das nächste Mal eine kurze Übung als Hausaufgabe auf. Dann machen wir für kommende Woche einen neuen Termin.
Patrik und Mia verlassen das Zimmer – er zuerst, mit ruckhaften Bewegungen, erfüllt von unterdrücktem Zorn, sie gleich hinter ihm, hektisch, noch immer mit gesenktem Kopf.
Wie ein Hund.
Sein Hund.
Das Einzige, was im Zimmer bleibt, ist ein schwacher Geruch nach herbem Schweiß in der Luft. Alles ist wieder still.
»Und Anette ist für dich nicht interessant genug?«
Markus und ich streiten uns wieder.
Das ist die trostloseste aller Beschäftigungen. Anklagen, die wie Schneebälle durch das Zimmer geschleudert werden. Mit dem einzigen Ziel, einander zu verletzen. Einen harten kalten Treffer im weichen Leib zu versenken.
Graues, graues Licht, das durch meine Fenstertüren sickert.
Draußen das Meer. Wütend und ungastlich. Schaum und braune Blätter, die am Strand im Wasser treiben. Die Temperatur, die sich dem Nullpunkt nähert, kein gescheiter Mensch will noch baden, auf den Felsen sitzen, die Aussicht bewundern. Schwarze Vögel, die sich über die Pfützen in meinem Rasen beugen, die kalte, glitschige Insekten suchen, um ihren Hunger zu stillen. Nackte Bäume, die hemmungslos ihre Körper in den bleigrauen Himmel recken.
»Ich habe wirklich nichts gegen Annette. Ich möchte nur nicht Weihnachten mit ihr verbringen.«
Gelogen.
Ich habe so allerlei gegen Markus’ Schwester. Sie ist so verdammt langweilig, dass die Uhren stehenbleiben.
Sie ist bei der Polizei, wie Markus. Wohnt in einem Vorort, wo alle Häuser gleich sind. Die gleichen graulasierten Holzfassaden, die gleichen blauen Trampoline im Garten, der gleiche Webergrill auf den schön getrimmten Rasenflächen vor dem Küchenfenster. Mann, zwei Kinder. Beim Essen Sport im Fernsehen. Die Kinder, die die ganze Zeit quengeln, weil sie den Tisch verlassen und sich an ihr Computerspiel setzen wollen.
Warum sollte ich mit ihr Weihnachen feiern? Ich kann die Logik nicht erkennen?
Markus ist jetzt in der Defensive. Denn wie soll er begründen können, warum ich mit Anette zusammen sein soll, wo ich die ganze Zeit doch ehrlich gesagt habe, wie wenig ich unsere Beziehung in einen offiziellen Rahmen fassen möchte.
»Das ist nur so verdammt typisch für dich.«
Das ist eine Anklage ohne wirkliche Spitze, aber seine Stimme ist dunkel und von Zorn erfüllt. Wie schwarzes Wasser füllt sie mein Zimmer, sickert in den Leerraum zwischen uns, füllt sie mit ihrer Anwesenheit.
»Du. Bist. Nicht. Gerecht.«
Jetzt bin ich es, die schreit.
»Ich habe dir doch nie versprochen, dass wir das so machen werden? Dass wir … dass wir zusammen … wären? Nicht auf diese Weise. Es tut mir leid. Ich wünschte, ich wäre anders, aber so ist es eben nicht.«
»Weißt du, wie ich mich dabei fühle?«
Seine Stimme ist jetzt verkrampft, seine Kiefer sind verspannt.
»Wie eine verdammte Nutte!«
Ich kann nicht dagegen an, aber bei dieser Behauptung breche ich in hysterisches Kichern aus. Es wirkt so ungeheuer übertrieben.
Markus, als Nutte.
Markus, mein kleiner Stricher.
Ich gehe zu ihm und umarme ihn leicht. Küsse seine stoppelige Wange.
»Aber Lieber. Du bist vieles für mich, aber eine Nutte …«
Wieder kichere ich.
Sein Körper ist starr unter meiner Umarmung. Energisch löst er sich aus meinen Armen und sieht mich wortlos an, macht kehrt und geht in die Diele, wo Mäntel und Schuhe wild durcheinanderliegen. Zieht seine Jacke an und steigt in seine lehmigen Gummistiefel. Verschwindet durch die Haustür, hinaus in den blaugrauen kaltfeuchten Nachmittag. Ich kann das schwappende Geräusch hören, als er durch die verschlammten Pfützen stapft. Die Tür ist noch immer angelehnt. Feuchtkalte Luft stiehlt sich in mein Wohnzimmer.
Er geht.
Einfach so.
Und ich bleibe allein zurück.
Die Schuld überkommt mich jetzt, sie steckt in jeder Pore, in der Luft, die ich atme, im Schweiß, der meine Handflächen bedeckt.
Und die Gewissheit erfüllt mich.
Er hat etwas Besseres verdient als mich.
Auszug aus dem Bericht der amtsärztlichen Kinderbetreuung Telefongespräch mit der Mutter
Die Mutter fragt an, da sie sich um
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