Das Trauma
ihren Sohn Sorgen macht. Sie berichtet, dass sie ihn immer für einen Spätentwickler gehalten hat und dass es ihm schwerfällt, sprachlich voranzukommen. Seine Motorik ist unbeholfen, und Laufen und Klettern bereiten ihm Schwierigkeiten. Kann in der Vorschule und zu Hause Wutausbrüche erleiden, was oft daran zu liegen scheint, dass er sich nicht verständlich machen kann. Die Mutter findet ihren Sohn an sich brav, aber ein wenig passiv, und glaubt, dass ihm der Umgang mit anderen Kindern schwerfällt. In der Vorschule scheint der Junge relativ gut zurechtzukommen. Er hat Freunde, schließt sich aber eher an jüngere Kinder an, was möglicherweise durch seine späte Sprachentwicklung erklärt werden kann. Ansonsten sieht man keine besonderen Probleme bei dem Jungen.
Ich erkläre der Mutter, dass Kinder sich unterschiedlich schnell entwickeln und dass zwischen den einzelnen Kindern sehr große Unterschiede bestehen können. Betone zudem, dass ihr Sohn einen guten Kameraden braucht, der Freunde in der Vorschule hat. Wir sprechen auch über die Probleme der Mutter im Umgang mit dem Jähzorn des Jungen. Die Mutter sagt, sie fühle sich verzweifelt und ohnmächtig, wenn sie ihr Kind nicht beruhigen kann. Ich mache sie auf die Möglichkeit aufmerksam, am BVC psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, um über ihre Probleme mit der Mutterrolle zu sprechen. Sie will darüber nachdenken und sich melden, wenn sie ein Gespräch wünscht.
Ingrid Svensk, Krankenschwester
Herbst in Stockholm.
Das Laub tanzt in der untergehenden Sonne über den Medborgarplatz. Die grauen Wolken haben einen strahlend blauen Himmel verlassen, der sich nach den Regengüssen der vergangenen Tage noch immer in den Pfützen auf dem Pflaster spiegelt. Überall Menschen, die im kalten Wind hin und her eilen. Irgendwo in der Nähe von Skanstull sind hupende Autos zu hören.
Langsam trete ich vom Fenster zurück, in das Besprechungszimmer. Überprüfe, ob alle Stühle im Kreis aufgestellt sind. Auf dem kleinen Tisch neben der Tür steht ein Krug mit Wasser und Gläsern. Papier und Kugelschreiber, Kleenex. Das übliche Zubehör. An der Tür klopft es, und Aina schaut herein. Sie hat sich die Haare zu einem hohen, lockeren Knoten aufgesteckt, und ihr weiter roter Kittel reicht ihr fast bis an die Waden.
»Sie sind da. Allesamt.«
»Alles klar, dann mal los.«
Einige Minuten später sitzen wir auf den harten Stühlen im Kreis. Lachen und Kichern füllen den Raum. Irgendwer öffnet eine Flasche Mineralwasser.
Wenn man es nicht wüsste, würde man nicht glauben, dass es sich hier um eine Selbsthilfegruppe für weibliche Gewaltopfer handelt. Dafür wirkt die Stimmung zu ausgelassen.
Sirkka lacht heiser und laut über eine Bemerkung von Malin, während sie sich zugleich mit der runzligen Hand durch die roten Haare fährt. Sie zieht ihre ausgeblichenen Jeans um ihren knochigen Hintern höher und lässt sich neben mich auf einen Stuhl sinken, so nahe, dass ich ihren Geruch nach altem Zigarettenrauch und billigem Parfüm wahrnehme.
Dann sieht sie mich an. Sie alle sehen mich an, und plötzlich verstumme ich. Ich spüre einen Kloß im Hals und merke, dass meine Wangen rot werden.
Unerklärlich.
Dieses Gefühl der Hilflosigkeit ist unerklärlich. Denn ich bin in meinen Interaktionen zu den Klientinnen immer sicher. Natürlich zerbreche ich mir manchmal den Kopf darüber, wie ich einem Menschen am besten helfen kann. Und ich finde nicht immer eine Antwort.
Aber das hier ist etwas anderes. Das hier ist eine plötzlich eingesetzte unerklärliche soziale Unsicherheit, an die ich mich von früher her einfach nicht erinnern kann.
Ich blicke Aina quer durch den Raum hilflos an. Sie lacht und scheint die Lage nicht verstanden zu haben, aber sie muss doch bemerkt haben, dass ein Vakuum entstanden ist, denn sie springt sofort ein, heißt auf ihre warme und offene Weise alle willkommen. Berührt Malin, die neben ihr sitzt, für einen Moment.
»Wollen wir uns ein paar Minuten Zeit nehmen und erzählen, wie die Woche verlaufen ist? Malin, würden Sie anfangen?«
Malin lächelt strahlend und zeigt dabei regelmäßige weiße Zähne. Sie hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit der zitternden Frau, die letztes Mal die Vergewaltigung geschildert hat.
»Ich hatte eine wunderbare Woche. Meine ältere Schwester hat am Dienstag ein Baby bekommen, also bin ich mit unseren Eltern zu ihr gefahren. Danach habe ich ziemlich viel trainiert. Im Herbst gibt es ja viele Läufe, also
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