Das Trauma
Steht mitten zwischen ihr und mir, drohend, wie ein riesiger Monolith auf einer Wiese.
»Ich habe vor, die Kinder zu beschützen. Ist dir das klar? Auch, wenn das bedeutet, dass du vielleicht ausziehen musst. Ich habe vor, sie zu beschützen.«
Das faucht er regelrecht, und kleine, unsichtbare Speicheltropfen treffen meine Wange. Mia bewegt sich noch immer nicht, aber ich kann große, schwere Tränen über ihre Wangen laufen sehen. Unter ihrer Nase hängt ein dünner Rotzfaden. Er wird immer länger, aber sie sitzt weiterhin bewegungslos und mit gesenktem Kopf da. Als warte sie auf einen Schlag. Oder sei soeben geschlagen worden.
Und ich denke, dass das im Grunde ja auch zutrifft.
»Wie lange empfinden Sie schon so?«, frage ich Patrik.
»Wieso empfinden? Sie meinen: Wie lange geht das schon so? Sagen Sie nicht: Wie lange empfinden Sie schon so?, denn hier geht es nicht um meine Gefühle. Es geht darum, wie die Wirklichkeit nun einmal aussieht. Hören Sie auf, mir Vorwürfe zu machen. Ich bin hier, weil ich auf irgendeine Weise wirklich ein verantwortungsbewusster Vater bin, weil ich will, dass meine Kinder einigermaßen geborgen aufwachsen können.«
»Nun gut, wie lange geht das Ihrer Meinung nach schon so?«
Patrik seufzt und atmet aus, während er noch immer mitten im Raum steht. Und plötzlich fuchtelt er mit seinen riesigen Fäusten, als wäre die Frage ein störendes Insekt, das er zu verjagen versuchte.
»Weiß nicht. Lange. So ungefähr wohl seit Lennarts Geburt.«
Seine Stimme ist jetzt leiser, und sie hat etwas Brüchiges, Resigniertes. In dieser Stimme liegen Monate mit durchwachten Nächten und Koliken, darin liegen Einsamkeit und Trauer und ein roher, heißer Schmerz.
»Es war nicht immer so. Vor Lennarts Geburt … da hing Mia mit diesen Schöner-Wohnen-Frauenzimmern unten auf dem Nytorget herum und pichelte den ganzen Tag Latte. Das war besser. Das war in Ordnung. Und vorher, als wir uns kennengelernt haben. Wir waren mehrere Jahre lang wahnsinnig verliebt. Ich meine … das war wirklich so eine starke Leidenschaft. Ich erinnere mich an diese Zeit und habe dann noch immer Schmetterlinge im Bauch. Und Mia war … wunderbar. Gesellig, klug, beredt. Hatte jede Menge Interessen, wäre fast Teilhaberin der Werbeagentur geworden, in der sie arbeitet. Aber dann … seit die Kinder da sind, seit Mia so ausgebrannt ist. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll … es ist, wie mit einem ganz anderen Menschen zu leben. Wie mit einer Fremden. Es ist nicht so, dass ich sie nicht leiden könnte oder so. Ich erkenne sie nur nicht mehr wieder.«
Ich sehe Mia an, die noch immer weint und zu Boden starrt. Denke, dass auch ich den Menschen nicht kennengelernt habe, den Patrik beschreibt, die gesellige und beredte Frau, in die er sich damals verliebt hat. Zum ersten Mal mache ich mir wirklich Sorgen um sie. Was, wenn sie so deprimiert ist, dass sie eine stärkere Zuwendung braucht, als meine kleine Praxis zu bieten hat? Ich habe schon früher Klientinnen verloren, und ich will nicht, dass das noch einmal passiert.
»Mia«, sage ich zögernd. Ganz leicht berühre ich ihre Schulter, und sie zuckt zusammen, »Mia, was sagen Sie dazu?«
Mia schüttelt nur den Kopf.
»Es ist nicht … so.«
»Wie meinen Sie das? Was ist nicht so?«
Patrick klappt seinen langen Körper in dem schmalen Sessel zusammen und schaut Mia zweifelnd an.
»Es ist nicht so, wie Patrik sagt. Gut, ich war müde. Ich hatte eine Weile geschlafen, aber ich hatte wirklich keine Tabletten genommen.«
»Und von wem sind dann die Tabletten, Mia? Kannst du das erklären?«, fragt Patrik langsam.
»Die gehören mir, das schon. Ich habe sie von unserem Hausarzt bekommen, das weißt du sehr gut. Ich schlafe so schlecht. Habe Angstzustände. Weiß nicht, was ich machen soll. Deshalb bin ich jetzt immer so müde. Aber ich hatte gestern nichts genommen. Da nicht. Ich war nur so … müde.«
Sie spricht leise, schaut die ganze Zeit zu Boden und streicht sich über die umfangreichen Oberschenkel.
» Ich haabe keine Taaaableeeeten genommen«, äfft Patrik sie mit schriller Stimme nach. »Weißt du, wie jämmerlich du bist? Alle Junkies behaupten doch, dass sie nicht süchtig sind. Junkies kann man nicht glauben, weißt du das nicht ?Du hast auf das Privileg, dass dir geglaubt wird, verzichtet, als du mit diesen Scheißtabletten angefangen hast. Kapierst du das?«
Ich sehe meine Wanduhr an, und es geht auf drei zu, was unweigerlich bedeutet, dass
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