Das Trauma
vorstellen, dass das total unethisch ist oder so, aber kann ich vielleicht ein Glas haben? Ich komme mir so … fertig vor.«
Kattis schnieft und wischt sich mit dem zerknüllten Toilettenpapier abermals das Gesicht. Sie hat Recht, einer Klientin Wein anzubieten, wirkt wirklich nicht ganz richtig, aber andererseits kann ich mir ja vorstellen, wie ihr gerade zumute ist. Ich laufe zur Teeküche und kehre mit einem weiteren Glas Rotwein zurück. Unterwegs schiebe ich die CD wieder ein.
»Bitte sehr. Nur dieses eine Mal. In Zukunft gibt es Kaffee oder Mineralwasser.«
Sie lacht zustimmend, dankbar. Ich halte ihr das Weinglas hin, und sie nimmt es an. Trinkt gierig einige Schlucke, lehnt sich dann zurück und blinzelt.
»Verdammt … es tut mir so leid. Entschuldigung. Es ist nur so verdammt anstrengend, über das alles reden zu müssen. Und dass es dermaßen anstrengend ist … das konnte ich ja nicht ahnen. Wissen Sie …«
Sie legt den Kopf schräg und sucht meinen Blick. Sucht nach Bestätigung. Verständnis. Ich sehe das nicht zum ersten Mal und nicke nur, stoße eine Art zustimmendes Brummen aus.
»Ich habe wohl nie … ich habe mir das noch nie so klar gemacht, und jetzt, plötzlich bricht das alles irgendwie über mich herein. Plötzlich geht mir auf, was für eine verdammte Loserin ich bin. Ich meine, wie konnte ich zulassen, dass so etwas passiert? Ich bin doch ein einigermaßen normaler Mensch. Ich hatte auch früher schon Beziehungen, und die waren … normal. Ganz normal.«
Kattis schaut mich flehend an. Als brauchte sie mein Mitgefühl, meine Zustimmung, Als müsste sie mir verständlich machen, dass sie normal ist, ganz normal. Nicht nur ein Opfer. Als wäre die Tatsache, dass ihr Ex sie geschlagen hat, eine Schande für sie. Als hätte sie etwas verbrochen, wäre die Schuldige.
Sie wendet sich kurz ab und trinkt einen großen Schluck Wasser.
»Es ist doch nicht Ihre Schuld.«
Das sage ich mit gelassener Überzeugung, denn ich weiß, dass es stimmt.
Kattis schaut in ihr Weinglas. Dreht es immer wieder um. Wirkt skeptisch.
»Ich hätte doch begreifen müssen. Ich hätte ihn doch verlassen müssen. Aber er ist nicht nur schlecht. Verstehen Sie? Die Welt ist nicht schwarzweiß. Kein Mensch ist nur gut oder schlecht. Und Henrik. Er hat mich wirklich geliebt. Das auch. Und ich … ich wollte doch so gern, dass es klappt.«
Plötzlich klingelt mein Handy, und ich hebe es hoch und schaue aufs Display. Es ist Aina. Ich bedeute Kattis zu warten, und dann melde ich mich. Aina ist sauer, weil ich noch nicht da bin, und fragt mit spitzer Stimme, ob sie kommen und mir beim Einräumen der Geschirrspülmaschine behilflich sein soll. Ich verspreche, mich zu beeilen, und beende dann das Gespräch. Kattis, die alles gehört hat, leert ihr Glas und steht auf.
»Ich halte Sie auf. So war das nicht gemeint. Ich gehe jetzt, aber danke fürs Zuhören. Und danke für den Wein.«
Sie läuft um den Tisch herum und zieht mich in einer spontanen Umarmung an sich, während sie ihren letzten Satz wiederholt.
»Danke. Danke, meine Liebe, fürs Zuhören.«
Aina sitzt an einem dunkelbraunen Holztisch und nippt an einem Bier. Sie blättert im Feuilletonteil von Dagens Nyheter , und ich kann sehen, dass sie verärgert ist. Es ist warm und ein wenig stickig in der großen Bierhalle, und Stimmengewirr umfängt mich. Es riecht nach Essen und etwas Undefinierbarem. Die meisten Tische sind besetzt, und ich stelle mir vor, dass die Gäste vor Dunkelheit und Kälte geflohen sind. Wie Schiffbrüchige, die sich irgendwo auf eine einsame Insel gerettet haben. Ich gehe zu Aina und zwänge mich an den Tisch. An meinem Platz steht ein unberührtes Weinglas. Aina schaut auf und scheint nicht so recht zu wissen, ob sie wütend sein oder meine Verspätung ignorieren soll.
»Schau mal her«, sagt sie und nickt zu der aufgeschlagenen Zeitung hinüber, wo ein Rezensent sich über ein gerade erschienenes Buch über Psychoanalyse äußert und die in den letzten Jahren stetig steigende Konzentration auf kognitive Verhaltenstherapie und evidenzbasierte Methoden innerhalb der Psychiatrie kritisiert. »Ich habe es so unendlich satt, als eine Art mechanische Therapiemaschine ohne Fähigkeit zu Empathie oder selbstständigem Denken dargestellt zu werden«, sagt sie dann. »Glauben die denn, man kann überhaupt irgendeine Art von sinnvoller Behandlung vornehmen, ohne sich für Erfahrungen und Hintergrund der Klienten zu interessieren? Bilden die sich
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