Das Trauma
halbem Weg zu ihrem Mund.
Kattis nickt stumm.
»Wo hat sie gewohnt?«
»Im Blåsippeväg, glaube ich«, sagt Sirkka.
»Wieso, kennen Sie sie?«, fragt Kattis.
Malin schüttelt heftig den Kopf und stellt ihr Glas hin.
»Das wirklich nicht, ich dachte nur … ach, egal.«
Dann wird das Essen gebracht. Eine lebhafte Diskussion über Gustavsberg bricht los. Über die seltsame Tatsache, dass alle auf irgendeine Weise von Susanne wissen, über die Vor- und Nachteile eines kleinen Wohnortes. Sirkka gestikuliert mit ihren mageren runzligen Armen. Malin hat ihre noch immer defensiv vor der Brust verschränkt. Sofie schaut sich ernst in alle Richtungen um, als versuchte sie, die Lage einzuschätzen, zu begreifen, was passiert. Zu entscheiden, wo sie hingehört. Aina lacht plötzlich laut und perlend, wie nur sie das kann, und wirft den Kopf in den Nacken.
Nur Kattis sieht mich aus großen, dunklen, leeren Augen an. Und alle anderen scheinen zu verschwimmen, sich in dem geschäftigen Raum aufzulösen, im biertrinkenden Publikum zu versinken. Und plötzlich ist alles still. Es gibt nur noch dieses bleiche Gesicht und die schwarzen Augen, und ich möchte sie so gern trösten, möchte für sie da sein, es ihr leichter machen, diese Last zu tragen, die ihr aus irgendeinem Grund auferlegt worden ist.
Sie leckt sich die schmalen, rissigen Lippen. Versucht ein Lächeln, das schief, steif ausfällt.
»Es wird wieder gut«, sage ich.
Sie lacht noch einmal, und plötzlich ist sie schön. Es spielt jetzt keine Rolle mehr, dass ihre Haare in fettigen Strähnen über ihre Schultern hängen oder dass ihre Augen rot sind. Sie ist schön.
Punkt.
»Das wissen Sie doch gar nicht«, sagt sie heiser.
»Doch, das weiß ich«, sage ich. Und in dieser Sekunde weiß ich, dass ich es auch so meine. Dass ein Teil von mir, von meiner Intuition weiß, dass Kattis immer zurechtkommen wird. Dass sie eine Überlebende ist, eine, die in der Finsternis den Weg zur Oberfläche findet, die immer auf den Füßen landet.
Eine, die geliebt wird und Liebe erwidern kann.
Nicht so eine wie ich.
Die Migräne, die wie ein Stahlhelm auf meinem Kopf lastet, zieht ihn zum matschigen Boden hinab, als ich über das laufe, was einst eine Rasenfläche war, jetzt aber eher aussieht wie eine Lehmgrube, aus der nur hier und da Grasbüschel ragen. Der Wind peitscht das Meer zu wildem Schaum auf, der über die Felsen spült und kleine graue Schaumpfützen in den Senken hinterlässt. Regentropfen trommeln wie Nähnadeln gegen meine Wangen.
Es ist fünf Uhr, und es ist bereits dunkel.
Warum, warum haben wir das Badezimmer in einem Nebengebäude eingerichtet? Wer ist auf diese Idee gekommen?
Stefan. Immer Stefan.
Stefans Idee: ein Haus am Meer. Nur er und ich. In der Natur. Nahe den Tauchmöglichkeiten.
Stefans Idee: Wenn wir im Nebengebäude ein Badezimmer einrichten, haben wir im Haus Platz für ein Wohnzimmer.
Irgendwo über dem Meer ist ein langer Klageruf zu hören. Wie von einem sterbenden Tier, einem verletzten Seevogel vielleicht. Ich halte eine Sekunde inne, drücke die knisternde Plastiktüte aus der Apotheke an mich. Deren Inhalt ruht trügerisch leicht in meiner klammen Hand, und ich kann nicht dagegen an, der Gedanke kommt von nirgendwoher. Nicht noch einmal. Das Kind, das gestorben ist, das wir getötet haben. Ich weiß, ich weiß, der korrekte Ausdruck ist, dass die Schwangerschaft beendet wurde. Noch dazu aus gutem Grund. Eine schwerwiegende Behinderung, die bei dem Embryo festgestellt wurde, hat meine und Stefans Familienambitionen beendet.
Aber dennoch.
Plötzlich fühle ich mich in die Zeit zurückversetzt, an einen anderen Tag, den Tag, an dem ich den Schwangerschaftstest gemacht hatte und über diesen Weg hier ging, um die frohe Botschaft mit Stefan zu teilen. Als mein Inneres erfüllt war von einem warmen und lichten Gefühl, das sich am besten als Vertrauen beschreiben lässt. Zu Stefan. Zum Leben, vielleicht.
Jetzt ist dieses Gefühl einer undefinierbaren bohrenden Unruhe im ganzen Leib gewichen. Wenn dort etwas wächst, in meinem düsteren Inneren, dann weiß ich nicht so recht, wie ich es willkommen heißen soll. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Vertrauen noch einmal aufbringen kann.
In der Wärme der Hütte lasse ich mich auf die Toilette sinken, entferne die Plastikpackung von dem Gegenstand, der aussieht wie ein Thermometer, der aber etwas ganz anderes misst.
Urin.
Begegne an der Wand David Bowies Blick. Herausfordernd
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