Das Trauma
wie immer steht er lässig zurückgelehnt da, sein schlangenhafter Körper ist in einen silbernen Overall gezwängt. Plateauschuhe. Rote Haare. Grell geschminkt.
Er zwinkert mir verständnisvoll zu, und ich hole tief Atem und lese das Testergebnis ab.
Polizei von Värmdö, Oktober
Sonja Askenfeldt stopft die Zigarettenpackung in die Handtasche und überlegt, ob sie vielleicht schon zu lange bei der Polizei ist. An diesem Tag sollen sie ein kleines Mädchen vernehmen, das mit größter Wahrscheinlichkeit mit angesehen hat, wie ihre Mutter ermordet wurde, aber sie selbst kann nur daran denken, dass sie nach der Arbeit bei Polarn O. Pyret vorbeischauen und die Rabattkarte einlösen muss, die bald verfällt. Vor zehn Jahren hätte sie schon Tage vor einer solchen Vernehmung gezittert.
Sie weiß aus Erfahrung, dass sie reagieren wird, wenn die Vernehmung erst in Gang ist, dass es schwer sein wird, das anzuhören und zu verarbeiten, was die Kleine erzählt, aber bis jetzt ist alles ganz normal.
Einfach noch ein Tag bei der Arbeit.
Sie begrüßt die Spezialistin für Fälle mit Kindern.
»Hallo, Carin von Essen. Wir kennen uns ja schon.«
Sonja nickt und lächelt. Sicher ist sie Carin schon begegnet, Carin mit dem Busch im Busch. Sie hat beim vergangenen Frühling bei einer Fortbildung zum Thema Vernehmungstechnik einen Vortrag gehalten. Außerdem hat Sonja eine deutliche Erinnerung an sie, von einem Betriebsfest im Sommer.
Von jenem Betriebsfest.
Und sie erinnert sich auch an eine andere Carin, nicht an die förmliche, ernste Frau, die jetzt vor ihr steht, an die angetrunkene, kichernde, rundliche Frau mit Krebsfestmütze, viel zu tiefem Ausschnitt und zerfetzten Nylonstrümpfen. Sie war eine von denen gewesen, die am lautesten gesungen und am heftigsten getanzt hatten und möglicherweise den Kollegen auch zu nahe gekommen waren. Später war über sie geredet worden, wie sie in einem Busch an der Wendestelle vor dem Festlokal gepinkelt hatte. In einem sehr kleinen Busch. So klein, dass der nicht einmal ihre privatesten Teile hatte verdecken können. Und deshalb wurde sie Busch genannt. Carin mit dem Busch im Busch.
Und jetzt steht sie hier also vor ihr, die blonden Haare frischgeföhnt und die weiße Uniformjacke bis zum Hals zugeknöpft, und sie sieht nur frischgeschrubbt und mütterlich aus, wie irgendeine blöde Kindergärtnerin. Wie die meisten Kinderfachleute bei der Polizei eben aussehen. Das scheint ansteckend zu sein.
Carin begrüßt ihren Kollegen Roger, der zur Feier des Tages Cowboyboots und einen Gürtel mit einem großen Messingadler als Schnalle trägt. Er strahlt bei Carins Anblick, und Sonja verspürt eine vage Irritation und etwas, das an Scham erinnert.
Schämt sie sich für Roger? Greift sein alberner Aufzug auf irgendeine Weise auf sie über? Seine lächerlichen kleinen Annäherungsversuche bei Carin von Essen, von denen er glaubt, dass sie die nicht bemerkt?
Sofort beschließt sie, dieses Thema ruhen zu lassen. Seine Kleiderordnung, seine Chauvisprüche und sein Pferdegrinsen gehen sie wirklich nichts an.
Sie arbeitet jetzt seit vielen Jahren mit Roger zusammen, und fast immer ist er ein guter Polizist. Aber er engagiert sich nicht mehr richtig. Der Eifer, den er vor zehn Jahren gezeigt hat, ist langsam verschwunden, wie Wasser, das aus einem Teich verdunstet und nur eine dünne Feuchtigkeitsschicht hinterlässt, die verrät, was sich dort einmal befunden hat. So ist es mit Roger. Seine Gefühle und seine Energie sind verdorrt. Nur eine dünne Patina aus Empathie und Engagement sind noch vorhanden. Er geht zur Arbeit, weil es sein muss, weil die Raten bezahlt werden müssen und weil er auch im kommenden Winter wieder mit seiner Frau und den Zwillingen nach Teneriffa fahren will. Und ehrlich gesagt kann sie ihm deswegen auch keine Vorwürfe machen. Kein Mensch vermag über längere Zeit in diesem Beruf idealistisch zu bleiben. Entweder man geht unter oder man wird … hart. Legt sich eine Art Panzer als Schutz vor der Wirklichkeit zu, mit der man jeden Tag konfrontiert wird. Lernt, Witze über Tod, Kotze und zugedröhnte Jugendliche zu reißen. Lernt es auch, diese Witze witzig zu finden.
Aber dennoch.
Sie ärgert sich über ihn. Er hat die schmale Grenze zwischen Resignation und purer Faulheit überschritten. Immer häufiger macht sie Überstunden und schreibt Berichte, für die er zuständig wäre, wenn sie eigentlich ihre Töchter aus dem Ferienlager holen oder zum Sport bringen oder
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