Das Trauma
sich einfach mit einem Buch und einer Fluppe hinsetzen müsste.
Sie erinnert sich daran, dass sie dieses Gespräch mit Roger bald führen muss. Dass es kein gutes Gefühl mehr ist, ihn wie das dritte Kind zu verhätscheln, das sie nicht hat und auch nicht haben will.
Jetzt begrüßt Carin, die Kinderexpertin, den Vater der Kleinen. Es ist üblich, dass die Eltern dabei sind, wenn so kleine Kinder vernommen werden. Der Vater sieht nervös und verschlafen aus. Die Haare zerzaust, die Augen geschwollen und rotgerädert, der verschlissene Wollpullover spannt um den Bauch auf eine Weise, die nichts Gutes verheißt.
»Warum wollen Sie das Verhör auf Video aufnehmen?«, fragt er, und Sonja kann etwas Skeptisches, vielleicht sogar Feindseliges in seiner Stimme hören.
»Wir nehmen alle Vernehmungen von Kindern unter fünfzehn auf Video auf«, erklärt Carin geduldig. »Das bedeutet, dass das Kind bei einer möglichen Verhandlung vor Gericht nicht noch einmal aussagen muss. Dann wird stattdessen das Video verwendet. Sie können Tilde jetzt in den Vernehmungsraum holen.«
Tildes Vater nickt und fährt sich mit der Hand über die Bartstoppeln, sieht aber noch immer nicht ganz überzeugt aus.
»Aber ich darf nicht dabei sein?«
»Nein, wie ich schon gestern bei unserem Gespräch erklärt habe, dürfen nur das Kind und die Vernehmungsleiterin im Raum sein. Es ist wichtig, dass das Kind sich auf die Vernehmung konzentrieren und die Fragen selbst beantworten kann. Eltern versuchen zu leicht, dem Kind auf die Sprünge zu helfen, und dann besteht die Gefahr, das Ergebnis zu beeinflussen. Sie müssen hier warten, mit … Roger und …«
»Sonja«, sagt Sonja. »Wir kümmern uns schon um Sie. Und Sie können die Vernehmung hier durch das Fenster mitverfolgen und jedes Wort hören. Wenn es für Tilde zu anstrengend wird, machen wir einfach eine Pause. Okay?«
»Okay«, sagt er zögernd, dreht sich um und geht mit unsicheren Schritten aus dem Raum, um Tilde zu holen.
»Ja, dann wollen wir mal«, sagt Carin mit dem Busch im Busch und verlässt den Raum auf lautlosen Ecco-Schritten.
Sonja denkt daran, was Roger ihr vorher erzählt hat. Er hatte sich mit Carin über die Vernehmung von Kindern ausgetauscht, und sie hatte ein wenig über die Probleme berichtet, die sich dabei ergeben konnten. Hatte erklärt, wie wichtig es sei, dass das Kind sich sicher fühlt, dass die Vernehmungsleiterin offene und einfache Fragen stellt, in einer Sprache, die das Kind versteht, da Kinder einen begrenzten Wortschatz haben. Carin hatte gesagt, Tilde, die soeben fünf geworden ist, kenne vermutlich nur zwischen tausend und fünfzehnhundert Wörtern. Außerdem setze die Entwicklung der semantischen Erinnerung beziehungsweise die Erinnerung an das Erlebte erst im Alter von fünf Jahren ein. Vorher falle es dem Kind noch schwer, sich an abstrakte Gegebenheiten zu erinnern. Kinder könnten sich erinnern, was passiert ist, vor allem, wenn es ein traumatisches Erlebnis war, aber es falle ihnen schwer, es wiederzugeben. Kinder unter drei Jahren würden eigentlich kaum je vernommen, da die Beweislast einer solchen Vernehmung überaus gering sei.
Tilde und Carin sitzen jede auf einem Stuhl am Tisch. Sonja erkennt den Vernehmungsraum fast nicht wieder. Die Kinderexpertin hat Kissen und Topfblumen, Zeichenpapier und Bücher mitgebracht. Vermutlich soll das eine gemütlichere Stimmung erzeugen, und diese Vermutung ist sicher nicht falsch.
Tilde sitzt ganz still da. Ihre braunen Haare sind locker hochgesteckt, und das Jeanskleid hängt wie ein Sack um den schmächtigen Körper. Die Beine baumeln vor dem hohen Stuhl in der Luft. Die Füße können den Boden noch längst nicht erreichen.
»Tilde, ich heiße Carin von Essen und bin bei der Polizei. Weißt du, was die Polizei macht?«
Tilde nickt langsam, gibt aber keine Antwort.
»Ich nehme Leute fest, die verbotene Dinge tun. Die sich prügeln oder stehlen, zum Beispiel. Ich möchte gern ein bisschen mit dir darüber reden, was deiner Mama passiert ist.«
Wieder nickt Tilde auf ihre langsame Art, als hätte sie den Ernst der Lage wirklich begriffen. Carin lächelt ihr zu und sagt dann:
»Wunderbar. Wir machen das so: Ich frage dich ein bisschen nach dem, was passiert ist, und diese Fragen beantwortest du. Und wenn du es nicht weißt, sagst du, ›ich weiß nicht‹. Hast du das verstanden?«
»Ja.«
Tildes Stimme ist fast nicht zu hören, und doch sträuben sich die Haare in Sonjas Nacken. Verbrechen,
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