Das Trauma
in die Schule gehen. Es ist sehr mühsam, ihn zum Schulbesuch zu bewegen.
Die Eltern beschreiben den Jungen als ein im Grunde ruhiges und ausgeglichenes Kind, das aber immer schon ein wenig anders war. Als sie gebeten werden, das genauer zu beschreiben, fällt es ihnen schwer. Sie beschreiben gewisse Probleme beim Lernen in der Schule und sagen dann, dass der Junge immer schon ein Einzelgänger war, der am liebsten mit den Eltern zusammen ist und nicht mit anderen Kindern. Er bastelt gern mit seinem Vater, der eine Autowerkstatt betreibt, an Motoren herum. Die Eltern glauben, eine gute Beziehung zu haben, auch wenn es durch die Probleme mit dem Sohn zu gewissen Reibereien kommt. Der Vater gibt an, dass er die Mutter manchmal ein wenig zu weich findet und dass man den Jungen mit fester Hand lenken und ihm klare Grenzen setzen muss. Die Mutter stimmt ihm da zwar zu, findet es aber auch schwer, zu hart mit dem Sohn zu sein, wenn sie sieht, wie er leidet.
Der Junge macht einen schüchternen Eindruck. Er weicht meinem Blick aus und starrt stattdessen seine Hände an. Er erzählt einsilbig, was geschehen ist, und bringt keine starken Gefühle zum Ausdruck. Er sagt, er finde seine Kumpels dumm und dürfe nur selten mitspielen. Vor einiger Zeit haben zwei Mitschüler ihm einen »fiesen Streich« gespielt, als sie ihm die Hosen heruntergezogen und seinen Penis, den sie »Fettspieß« nannten, einem Mädchen gezeigt haben, für das der Junge schwärmte. Der Junge berichtet, dass ihm daraufhin »am ganzen Körper« heiß wurde und dass er die anderen Jungs »einfach zu Brei hauen« wollte. Da er groß und stark ist, konnte er sie überwältigen, und er schlug dann den einen Jungen so hart ins Gesicht, dass die Wunde mit acht Stichen genäht werden musste. Der Junge zeigt keinerlei Reue und findet, der andere »habe es nicht anders verdient«. Er sagt außerdem, dass die anderen Kinder immer gemein zu ihm sind und dass er überhaupt nicht zur Schule gehen will. Auf die Frage, was er stattdessen machen möchte, antwortet er, er würde gern mit seinem Vater in der Autowerkstatt arbeiten.
Zusammenfassende Einschätzung:
11-jähriger Junge, der bisweilen aggressiv und ausagierend ist, bisweilen passiv und verschlossen. Einziges Kind zusammenwohnender Eltern. Der Vater ist Automechaniker mit eigener Werkstatt, die Mutter Floristin. Die Eltern verhalten sich stark protektiv und kontrollierend, und das ausagierende Verhalten des Jungen kann als Reaktion darauf betrachtet werden. Die Probleme in der Schule hängen mit großer Wahrscheinlichkeit damit zusammen, dass die Eltern den Jungen nur ungern zur Schule gehen lassen. Dass er so oft fehlt, scheint diese Hypothese zu bestätigen.
Auf diese Weise können die Probleme des Jungen als Symptom einer pathologischen Familiendynamik betrachtet werden, und die passende Behandlung scheint in familientherapeutischen Interventionen zu bestehen. Die Eltern bekommen in zwei Wochen einen neuen Termin.
Diplom-Psychologe Anders Krepp, Familientherapeut
Markus bringt Teller zum abgenutzten Ausziehtisch, stellt Gläser daneben und legt das Besteck ordentlich dazu.
»Geht das so?«
»Sicher, alle können sich selbst etwas holen. Es sind doch nur Vijay und Aina, da brauchen wir keine Tischordnung.«
Er lacht und streckt seinen langen muskulösen Arm aus. Fängt mich im Sprung ein, zieht mich mit selbstverständlicher Autorität an sich. Er riecht frischgeduscht, und ich bohre die Nase in die Achselhöhle des grauen Pullovers.
Das Gefühl, das in mir heranwächst, ist schwer zu definieren. Irgendwo wächst eine Hoffnung, eine Art Zuversicht, die ich seit Jahren nicht mehr verspürt habe. Und dann noch etwas anderes: ein weiches Glücksgefühl, das durch meinen Körper strömt. Als ob die Sonne mitten im novemberdunklen Stockholm auf mich herabschiene.
Ungefähr in dem Moment, als Markus die Amarone-Flaschen öffnet, wird an die Tür geklopft. Ich laufe in die zugige kleine Diele, beuge mich vor und schaue durch das Guckloch in der Tür, das Markus angebracht hat, nachdem ich in meinem kleinen Haus überfallen worden bin.
Die Gesichter von Aina und Vijay lachen mich an, von der Linse grotesk verzerrt.
In Vijays Hand eine Weinflasche.
Ich mache auf, lasse die feuchtkalte Herbstluft herein und umarme sie beide.
Eine Weile darauf sitzen wir am Küchentisch und essen das von Markus zubereitete Boeuf Bourguignon. Aus dem Wohnzimmer kann ich das Holz im Kamin knistern hören. Ein schwacher
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