Das Trauma
aus ihr herausbekommen. Sie hatten eine Kinderexpertin dabei, und nach allem, was ich gehört habe, hat die auch gute Arbeit geleistet …«
Vijay hebt die Hand, um Markus zu unterbrechen.
»Es ist nicht eure Schuld, deine Kollegen haben offenbar alles richtig gemacht. Sie ist ganz einfach zu klein. Aus einer Fünfjährigen könnt ihr nichts Gescheites herausholen. Was wissen wir sonst noch? Der Täter ist überaus brutal vorgegangen und hat die Tritte vor allem auf ihr Gesicht gerichtet. Keine anderen Waffen oder Gegenstände wurden verwendet. Korrekt?« Abermals nickt Markus. »Sind am Tatort irgendwelche Spuren gefunden worden?«
»Nicht sonderlich viele, die Spurensicherung glaubt, dass die Tat von einem Mann ausgeführt wurde, aufgrund der angewandten Kraft und der vor Ort gefundenen Hand- und Fußabdrücke. Sie haben zudem den Verdacht, dass der Täter Handschuhe getragen hat. Die Abdrücke weisen darauf hin. Außerdem haben sie Spuren einer Art Talg gefunden, wie es sie an manchen Chirurgenhandschuhen gibt. Das war aber auch schon alles. Es gibt jede Menge von Fasern vor Ort, Hundehaare, Katzenhaare, Kaninchenhaare, Hamsterhaare, da scheint die gesamte Arche Noah durchgezogen zu sein. Und dann haben sie noch Essensreste und irgendwelche kleinen Metallspäne gefunden, die die Spurensicherung für Reste von Schweißarbeiten hält.«
»Hm. Das ist interessant, sehr interessant.« Vijay lässt sich zurücksinken und mustert die Decke.
»Was ist interessant?«, fragt Aina.
»Das mit den Handschuhen. Das wiederum weist auf irgendeine Art von Planung hin, und das weist auf eine andere Art von Verbrechen hin, als du es zuerst beschrieben hast.«
»Das musst du mir aber erklären«, sagt Markus.
»Ja, also. Es gibt natürlich eine Menge von Modellen zur Klassifizierung von Mördern und anderen Gewaltverbrechern, aber am einfachsten und praktischsten ist es vielleicht, Gewalt nur in zwei Gruppen einzuteilen: reaktiv und instrumentell. Wenn es um reaktive Gewalt geht, tötet der Täter als Reaktion auf etwas: eine Provokation, eine Person oder vielleicht ein Verhalten, das ein altes Trauma zum Leben erweckt. Es ist nicht geplant, und wenn er eine Waffe benutzt, dann nimmt er oft etwas, das gerade zur Hand ist, einen Stein oder ein Küchenmesser zum Beispiel. Die Waffe oder der Gegenstand wird danach oft am Tatort zurückgelassen. Die Gewalt kann überaus brutal sein, und die Tatorte sind das pure Chaos und oft voller hinterlassener Spuren, weil die Tat nicht geplant war. Die meisten Morde fallen in diese Kategorie. Gewalt in der Familie und Kneipenschlägereien sind Beispiele für typische reaktive Gewalt. Meistens kennen Täter und Opfer einander auch. Also … auf den ersten Blick müsste es sich hier um genau so ein Verbrechen handeln. Aber …«
Vijay legt eine Kunstpause ein und lässt seine Blicke um den Tisch wandern, und ich habe den Endruck, dass er es genießt, im Mittelpunkt zu stehen und sein Wissen zu teilen, ich weiß, dass das hier sein Paradepferd ist. Er lächelt und legt langsam die Handflächen auf die Weise zusammen, wie er es immer tut, wenn er etwas Wichtiges erzählen will.
»Also?«, fragt Aina ungeduldig.
»Etwas stimmt hier nicht. Das mit den Handschuhen. Dass der Mörder Handschuhe getragen hat, meine ich. Es stimmt nicht mit dem Verhalten des reaktiven Täters überein. Der plant niemals im Voraus. Aber natürlich«, murmelt er, fast an sich selbst gerichtet, »instrumentelle Gewalt kann in reaktive Gewalt übergehen. Und dann haben wir die Sache mit der übertriebenen Brutalität, die hier vorliegt. Das kann darauf hinweisen, dass der Täter selbst eine Geschichte voll wiederholter Traumatisierungen hat. Wenn er dann in eine Situation gerät, in der er Gewalt ausübt, kann das ein altes Trauma wecken, was zu noch heftigerer Gewalt führt. So könnte es durchaus gewesen sein. Die anfängliche instrumentelle Gewalt kann in reaktive übergegangen sein.«
Markus schaut mich an und hebt diskret eine Augenbraue. Ich lächele, weiß, er findet Vijay zu intellektuell, glaubt, der bliebe in theoretischen Modellen stecken, die auf die Wirklichkeit nicht anwendbar sind. Wer nun aber die Frage stellt, ist Aina:
»Aber was bedeutet das denn nun alles? Glaubst du, dass es Henrik war oder nicht?«
Vijay zögert, als versuchte er, sich ganz korrekt auszudrücken.
»Ich glaube, dass das Verbrechen geplant war. Die Verwendung von Handschuhen zum Beispiel. Und ich glaube, dass es auf irgendeine
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