Das Trauma
Lederjacke. Er scheint sich nicht wirklich darauf einlassen zu wollen, dass wir eine ganze Stunde miteinander verbringen werden, sondern stattdessen zu betonen, dass er bald, ganz bald gehen wird.
»Patrik«, ich zögere einen Moment, überlege, wie ich mich ausdrücken soll. »Sie sind oft wütend, wenn wir uns sehen. Und Sie scheinen sehr wütend auf Mia zu sein. Ich wüsste gern, woher diese ganze Wut kommt.«
»Aber das liegt doch wohl auf der Hand?«
»Tut es das?«
»Man kann sich einfach nicht so verhalten wie Mia. Das ist so ein verdammter … Verrat … an … den Kindern. Wenn man Kinder in die Welt setzt, hat man doch eine gewisse Verantwortung. Oder etwa nicht?«
»Auf welche Weise hat Mia Sie Ihrer Meinung nach verraten?«
Patrik seufzt wieder, zum zehnten Mal in diesem Gespräch.
»Wie deutlich muss ich es denn noch sagen? Sie ist süchtig nach irgendwelchen angstlösenden Pillen. Das ist doch … der ultimative Verrat. Schlimmeres kann man denen, die man liebt, doch nicht antun. Sie zieht die Tabletten uns vor. So einfach ist das.«
»Sie fühlen sich also abgewiesen?«
»Was heißt schon abgewiesen, um mich geht es doch gar nicht. Es geht um die Kinder. Und um die Tatsache, dass sie das selbst so gewollt hat. Wie kann man eine Packung Tabletten den eigenen Kindern vorziehen? Ein Kind ist doch total abhängig von seiner Mutter? Ja, ich muss zugeben, dass mich das wahnsinnig provoziert.«
Wir schweigen eine Weile. Er tritt immer wieder mit dem einen Fuß auf den Boden.
Ungeduldig. Unglücklich.
»Patrik, sagen Sie, haben Sie so etwas vielleicht schon einmal erlebt? Hat Sie vielleicht jemand vernachlässigt? Als Sie ein Kind waren?«
Patrik erstarrt mitten in der Bewegung und blinzelt mehrmals, und ich weiß, dass ich auf irgendeiner Spur bin, deshalb beuge ich mich vor und fixiere ihn mit Blicken, widme dem schlaksigen wütenden Mann mir gegenüber meine gesamte therapeutische Aufmerksamkeit.
»Und was hat das mit all dem hier zu tun?«
»Das wissen wir noch nicht. Oder? Sie haben so etwas also schon einmal erlebt.«
»Vielleicht.«
»Was bedeutet das?«
Wieder trampelt er mit dem Fuß, seufzt und schlägt die Hände vors Gesicht.
»Mutter … meine Mutter, sie hat ziemlich viel getrunken.«
»Ihre Mutter war also Alkoholikerin? Wie alt waren Sie, als sie diese Alkoholprobleme entwickelt hat?«
»Keine Ahnung. Die hatte sie wohl schon immer. Aber ich hab das erst so mit sechs, sieben Jahren bemerkt.«
»Und wie hat ihr Problem Ihre Beziehung beeinflusst?«
»Ach, sie war ja nicht weggetreten oder so. Es war nicht so, dass das Jugendamt uns die Bude eingerannt hätte, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber sie konnte verdammt launisch sein. Ab und zu gab es nichts zu essen. Ich habe nach der Schule fast immer bei Freunden gegessen. Alle haben sich gekümmert. Ich bin auf Domarö aufgewachsen, im Stockholmer Schärengürtel. Das ist eine kleine Gemeinschaft. Alle halten zusammen. Man … klatscht nicht übereinander. Sie wussten natürlich, dass meine Mutter trinkt, deshalb haben alle geholfen, so gut sie konnten. Aber niemand … hat etwas gesagt. Und ja, es ist vorgekommen, dass sie uns geschlagen hat. Oder einfach nur angebrüllt. Weiß nicht, was schlimmer war. Ich habe mich um meinen kleinen Bruder gekümmert.«
»Wie lange ging das so?«
»Ich bin mit sechzehn von zu Hause weggezogen. In dem Jahr, in dem ich achtzehn wurde, starb meine Mutter. Es war ein Autounfall, es hatte also nichts mit dem Alkohol zu tun. Glaube ich.«
»Und was fühlen Sie, wenn Sie an Ihre Mutter denken?«
»Ich denke nicht an sie.«
Die Antwort kommt blitzschnell, und der Blick ist plötzlich wieder fest. Weicht meinem nicht aus.
»Natürlich tun Sie das. Kommen Sie. Versuchen Sie, Ihre Gefühle in Worte zu fassen.«
»Ich bin … ich bin wohl … verdammt sauer«, sagt er und zögert einen Moment, ehe er hinzufügt: »Ha, das hätte ich wirklich nicht geglaubt, ich habe so lange nicht mehr daran gedacht. Aber so ist es. Ich bin wütend. Schluss, aus.«
»Was macht Sie so wütend?«
»Natürlich, dass sie sich nicht um uns gekümmert hat. Dass sie sich ihrer Sucht gewidmet hat und nicht ihren Kindern.«
Ich beuge mich zu ihm vor.
»Genau wie Mia also?«
Patrik mustert mich stumm, und seine Hände zittern. Seine Augen sind plötzlich feucht und sein Gesicht kindlich, trotz der schwarzen Bartstoppeln. Sein Blick ist bittend.
Ich sage nichts, sondern nicke nur stumm.
Wieder Regen.
Harte
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