Das Trauma
ins Gesicht.«
Sirkka blinzelt. In ihrem runzligen Gesicht ist ein schwaches Zucken zu sehen. Die Erinnerung tut weh. Nach all diesen Jahren tut sie noch immer weh.
»Und er schien das zu genießen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er je gesagt hätte, verzeih mir, oder um Entschuldigung gebeten hätte. Er schien nur das zu tun, was er für sein Recht hielt. Er wurde zu einem anderen Menschen. Und ich konnte das nicht verstehen. Plötzlich war ich in der Hölle, und ich wusste nicht, wie ich dort gelandet war. Er war ein Teufel. Ein richtiger Teufel.«
Wieder verzieht sie ihr Gesicht, weil es so wehtut.
»Und Sie konnten ihn nicht verlassen?« Ainas Stimme klingt mild, eigentlich ist es gar keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Nein, ich hatte nichts, wo ich hingehen konnte, kein eigenes Geld, keine Freunde. Meine Familie war in Finnland, aber meine Eltern waren alt, und dann bekam meine Mutter Krebs. Es dauerte ein halbes Jahr, dann war sie nicht mehr da. Ich hatte nur diesen Kerl. Und dann die Kinder. Für sie lebte ich.«
Wieder ahne ich dieses fast unsichtbare Lächeln, als hätte Sirkka gelernt, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Sie sitzt still auf ihrem Stuhl, berichtet sachlich und ruhig, als ginge diese Geschichte sie gar nichts an. Nur die schwachen Bewegungen in ihrem runzligen Gesicht verraten die Gefühle dahinter.
»Erst schlug er nur ab und zu. Schimpfte eher. Brüllte, wenn etwas nicht in Ordnung war. Eine Ohrfeige vielleicht. Ein Schlag mit der flachen Hand auf den Kopf. Dann wurde es anders. Drohungen. Er konnte sagen, er würde mich umbringen, wenn ich mich nicht besserte. Wenn ich nicht gehorchte. Ich glaube, er genoss es, mich zu erniedrigen. Meine Angst zu sehen. Er hatte mich im Griff, und das wusste er. Ich gehörte ihm. Ich habe mich oft gefragt, warum er mich nicht verlassen hat, wenn ich doch so wertlos war, so hässlich, so … abstoßend. Und ich glaube, das war es ja gerade. Ich gehörte ihm, und deshalb fühlte er sich mächtig. Das ist jedenfalls meine Erklärung.«
Sirkka lächelt mich und Aina an, wie um sich dafür zu entschuldigen, dass sie uns ins Handwerk pfuscht. Für Erklärungen und Deutungen sind schließlich wir zuständig.
»Die Kinder, die haben mich aufrechtgehalten. Es gab Momente, in denen habe ich mir den Tod gewünscht. Das war der einzige Ausweg, den ich mir vorstellen konnte. Aber die Kinder, die haben mir immer die Kraft gegeben, weiterzumachen.«
»Aber das, was du hier erzählst, das ist doch über dreißig Jahre her. Soll das heißen, dass du die ganze Zeit bei ihm geblieben bist und dass es so weiterging? In all den Jahren? Das ist doch dein ganzes Erwachsenenleben?« Kattis sieht entsetzt aus. Schaut Sirkka voller Mitgefühl an.
»Doch, es ist so. Genau wie du sagst. Es war mein ganzes Erwachsenenleben. Zuerst waren die Kinder doch so klein, und dann … man gewöhnt sich. Ich kann das nur damit erklären, dass man sich gewöhnt. Noch das Allerschrecklichste wird zum Alltag. Und man sieht, womit man es zu tun hat. Irgendwann kamen mir dann wohl auch Zweifel an mir selbst. Vielleicht hatte Timo ja recht. Vielleicht war ich ein dummes Stück, das ohne ihn nicht überlebt hätte. Und ich wusste doch, was ich hatte. Einen gemeinen Kerl, na gut. Aber ein Dach über dem Kopf und Geld fürs Essen. Die Kinder wurden groß, zogen aus. Manchmal haben sie mir gesagt, dass ich ihn verlassen sollte. Sie wussten doch, was Sache war. Auch wenn sie nur einen Bruchteil davon sahen, was vor sich ging. Sogar Timo war klug genug, die Kinder vom Ärgsten fernzuhalten. Und ich verteidigte ihn, erklärte, glättete. Es klingt natürlich verrückt, aber so war es. Und auf irgendeine Weise hatten wir einander. Ich kann das nicht richtig erklären, aber … wir waren doch in all den Jahren zusammen. Manchmal war es fast nett, so komisch sich das anhören mag. Es war wie ein Waffenstillstand. Und die Zeit vergeht. Die Jahre sind so schnell vorbei, plötzlich ist man alt, die Kinder sind ausgeflogen, und alles, wovon man vor langer Zeit geträumt hat, ist verschwunden. Alles ist schon zu spät. Unser Leben ist uns davongelaufen. Das war fast das Schlimmste. Einzusehen, dass er mir fast mein ganzes Leben gestohlen hatte. Ich hatte das Gefühl, dass er mir nichts mehr wegnehmen könnte, und wenn er mich umbrächte. Und erst da …«
Sirkka verstummt und macht ein nachdenkliches Gesicht. Als müsste sie sich alles noch einmal überlegen. Die plötzliche Stille im Raum wirkt
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