Das Turmzimmer
habe ich auf die Welt gebracht, Millionen von Wörtern geschrieben, und doch ist es mir nie gelungen, Nella zu sagen, dass sie mir sehr viel mehr bedeutet hat als alle Worte zusammen. Es ist nicht schön, das erkennen zu müssen, doch zum jetzigen Zeitpunkt bin ich wahrscheinlich wichtiger für mich als für andere. Marguerite natürlich ausgenommen. Und Bella vielleicht.
»Du vergisst nicht, von der Fotografie zu erzählen, ja?«, sagte sie von der Tür aus, kurz bevor sie ihr helles Haar schwang. Wenn es eine Sache gibt, die ich hasse, sind das Leute, die es sich anmaßen, mir zu sagen, was ich erzählen soll und was nicht. Doch ich will eine Ausnahme machen, da sie zufälligerweise recht hat. Im Gegensatz zu Antonia von Liljenholm, die meistens mitten in irgendeiner Gruppe und damit mitten auf irgendeiner Fotografie zu sehen war, habe ich ein besonderes Talent, außerhalb des Rahmens zu stehen. Entweder, weil ich aus freien Stücken hier gesessen und auf die Tasten meiner inzwischen total antiken Underwood eingehackt habe, oder weil es mir einfach zur Gewohnheit geworden ist, einen Schritt von der Menge zurückzutreten.
Die Fotografen haben sich auch kein Bein ausgerissen, mich mit der Kamera einzufangen, muss ich gestehen. Doch so ist das wohl, wenn das Äußere nicht den Konventionen entspricht. Wie dem auch sei, mich hat das nie ernsthaft gekümmert. Doch wenn ich jetzt hier sitze, ärgert es mich, dass ich sie nicht mit einer einzigen Fotografie von mir bereichern konnte. Nicht einmal von dem unbestrittenen Höhepunkt meiner Karriere. Denn der ist mit Sicherheit zur Genüge verewigt worden, auch wenn ich nicht auf einem einzigen Bild zu sehen bin. Unbestreitbar sieht niemand so aus, als würde er auch nur ahnen, dass ich überhaupt anwesend war, was mich jedoch nicht daran hindern soll, es hier zu erwähnen.
Vielleicht kennen Sie die bekannte Fotografie von 1959. Damals hatte meine inzwischen verstorbene Freundin Lula, besser bekannt als die Autorin Carson McCullers, die Baronesse Karen Blixen eingeladen, um die Bekanntschaft von Marilyn Monroe und Arthur Miller zu machen. Sie sitzen an Lulas Marmortisch und prosten sich mit Champagner zu, während sie auf ihre Austern warten, und mitten auf dem Tisch steht eine Schale mit Trauben. Ich erwähne die Schale deshalb, weil ich links davon sitze. Außerhalb des Bildes, getreu meiner Gewohnheit, und niemand scheint mit mir anzustoßen. Arthur sieht die Baronesse an, Marilyn ebenfalls, und wo Lula hinsieht, weiß ich nicht. Dafür sieht sie mich auf einer der anderen Fotografien, auf der sie, die Baronesse und Marilyn allein zu sehen sind, direkt an. »Komm doch zu uns herüber!«, sagt ihr Blick, und ich weiß wirklich nicht, warum ich es nicht getan habe, doch ich gehe einmal davon aus, dass ich einfach so bin. Wenn ich soll, will ich nicht. Selbst wenn eine Schönheit wie Marilyn Monroe mit ihrem reizenden Dekolleté und dem Duft von Chanel N°5 sich zu mir hinüberbeugt.
Das Merkwürdigste am Altwerden ist, dass ich immer häufiger Tagträumen nachhänge. Von Situationen, die endgültig vorbei oder nie eingetreten sind, von Nella und Marilyn und den Hofbällen, die ich gehasst habe. Vielleicht bin ich einfach ein Mensch, der besser im Kopf als in der Wirklichkeit lebt. Der Gedanke ist mir vor allem deshalb gekommen, weil die Wirklichkeit immer unwichtiger für mich wird. Früher fühlte ich mich wochenlang geschmeichelt, wenn ich von meinen Lesern begeisterte Briefe erhielt, heute lese ich sie nicht einmal mehr. Marguerite liest sie, glaube ich. Sie kümmert sich um meine Korrespondenz und um eine ganze Reihe anderer Dinge, und ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei ihr zu bedanken. Wir kennen uns seit fünfzig Jahren, und das, Marguerite, meine allerliebste Freundin, ist nicht ein Jahr zu viel. Du tust es als unwichtig ab, wenn ich dir das sage. Aber nie bin ich dankbarer für etwas gewesen als dafür, dass du 1943, als ich so unglücklich war wie noch nie zuvor in meinem Leben, eingewilligt hast, nach Liljenholm zu ziehen. Weil du gekommen bist, bin ich geblieben. Ich mag gar nicht daran denken, wo ich sonst heute wäre.
1947, als die erste überarbeitete Auflage von Das Turmzimmer herauskam, wurde ich aufgefordert, das Buch den Lebenden zu widmen, doch ich habe es nicht getan. Ich habe es den Toten gewidmet, und dabei bleibt es. Ich vermisse dich zutiefst, Nella. Alles, was ich im Folgenden zu Papier gebracht habe, ist dir gewidmet, aus ganzem
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