Das Turmzimmer
dessen erster Seite in Blockbuchstaben Eine Handvoll Orkane stand. Sie pustete den Staub vom Schreibtisch und legte es zur Seite. Hier hatten wir zumindest Nellas Miete für das nächste halbe Jahr, dachte ich.
»Ja, wundert es dich, dass ich mich hin und wieder wie tot fühle?«, fragte sie. Dieses Gespräch hatte sich total falsch entwickelt, wie so viele Gespräche zuvor. Wäre ich Herrin des Wortes gewesen, hätte ich Nella genau wissen lassen, wie froh ich war, dass sie lebendig und bei mir war und nicht tot und bei ihrer Familie.
Doch sie hatte bereits die nächste Schublade herausgezogen. So kräftig, dass die Stapel in Unordnung gerieten. Lilys Todesanzeige, Quittungen, Stapel mit Autogrammkarten und Leserbriefen mischten sich mit Beileidsschreiben anlässlich von Lilys Tod, vergilbten Zeitungsausschnitten und exklusiven Briefbögen mit den dazugehörigen Umschlägen. Einer der Ausschnitte erregte meine Aufmerksamkeit. Ein Interview mit Antonia. Allem Anschein nach kurz nach Simons Verschwinden und mit einem Profilbild von A ntonia von Liljenholm, Der Königin der Gespenster , um den Bildtext zu zitieren. Antonias Blick war genauso traurig, wie Nella klang, als sie vorlas:
»Mein Mann war all das, was ich nie war. Lebenstauglich, lustig und liebevoll. Seine Schönheit war bemerkenswert. Sie sollten wissen, wie oft ich mich bei meiner Arbeit von ihm habe inspirieren lassen.« »Wenn Sie die jungen Liebhaber beschreiben, meinen Sie?« »Ja, sicher. Jetzt, wo Sie mich fragen, habe ich keine Ahnung, wie ich weiterleben soll, wenn er nicht zurückkommt. Mit jeder Stunde schwindet meine Hoffnung, ihn wiederzusehen.« »Haben Sie Angst, dass er tot ist?« »Natürlich fürchte ich das.«
Hierauf machte sich der Interviewer die größte Mühe, Antonia dazu zu bewegen, den Namen ihres Geliebten zu verraten und ein Foto freizugeben, doch sie weigerte sich. »Ich weiß Ihr Verständnis für meine Situation zu schätzen, doch meine Antwort bleibt Nein«, sagte sie. Nella schien sich unwohl zu fühlen.
»Der Schluss ist fast noch schlimmer«, sagte sie. Sie las weiter:
»Gott sei Dank haben Sie ja Ihre kleine Tochter, Frau Liljenholm?« »Ja, Gott sei Dank! Gerade jetzt ist sie mein einziger Trost. Sie hat so viel von meinem Mann und meiner geliebten Schwester – Gott hab sie selig.« »Ihre Schwester haben Sie auch gerade verloren, ist das richtig?« »Ja, sie ist aus dem Fenster gesprungen, die Liebe. In unserer Familie gab es immer schon eine Neigung zu Depressionen, aber ich hoffe und bete natürlich, dass meine kleine Tochter davon verschont bleibt. Das würde jede Mutter wohl tun, glaube ich. Wir wünschen unseren Kindern schließlich das Beste.«
Der Interviewer war zu taktvoll, es direkt zu schreiben, aber es wurde trotzdem deutlich, dass er sich wunderte. Gibt es Ihren Mann und Ihre Schwester überhaupt?, konnte man ihn nahezu fragen hören. Oder haben Sie ihre Tode nur inszeniert, um mehr Bücher zu verkaufen, Antonia von Liljenholm?
Langsam riss Nella den Artikel in der Mitte durch, knüllte die Reste zusammen und warf sie in den Kamin. Glücklicherweise brannte er nicht. Ansonsten hätte ich selbstverständlich Schwierigkeiten gehabt, die Fetzen zu retten und alles wortwörtlich zu zitieren. Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf. Objektiv betrachtet bin ich nicht viele Millimeter größer als der Durchschnitt, doch angeblich wirke ich so. Besonders auf Frauen.
»Weißt du was«, sagte ich und nickte in Richtung Tür. »Ich könnte jetzt wirklich eine starke Tasse Tee vertragen.«
Liljenholm zeigt sich von einer neuen Seite
Ein Gedanke ging mir nicht aus dem Kopf, als Nella mich durch die Räume zurückführte.
»Ja, hier sind wir schon einmal gewesen«, sagte sie. »Vielleicht ist es dir nicht aufgefallen, aber hier ist eine Tür.«
Da war eine Tür. Eine Tür, die in der vergoldeten Tapete des Vorraums kaum zu erkennen war, und während ich in ein Zimmer trat, das der Bibliothek sehr ähnlich, aber mit einem Klavier, einer Standuhr und einem Schreibtisch eingerichtet war – Simon hatte das Zimmer angeblich als Büro genutzt, als er hier gewohnt hatte –, dachte ich an die Zwillinge. An das dunkle Schicksal der Familie Liljenholm. Denn wenn alle Generationen Zwillinge bekamen, was sie wohl taten, das hatte selbst Nella bestätigt, was war dann aus ihrem Zwilling geworden? Ich hatte sie natürlich ausgefragt, zweifellos einige Male zu oft, doch das Einzige, worin ich bestätigt wurde,
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