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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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war unser gemeinsames Schicksal. Ungeachtet, wie sehr Nella nachdachte und sich zu erinnern versuchte, die ersten sechs Jahre ihres Lebens waren einfach wie ausgelöscht.
    »Da ist das Spielzimmer«, sagte sie und nickte zu einer geschlossenen Tür am Ende einer kleinen Treppe hin, die Ähnlichkeit mit der Tür hatte, die zu Antonias Arbeitszimmer führte. »Mutter hat sich oft dort aufgehalten, wenn sie eine Pause gebraucht hat.«
    »Und was ist mit der Treppe dort links?«
    Ich fror und zitterte so sehr, dass meine Zähne aufeinanderschlugen, und wenn ich die Wahrheit sagen soll, trug die eiskalte, stehende Luft nur teilweise Schuld daran. Nella sah mich besorgt an.
    »Dort müssen wir lang«, sagte sie. »Die Küche ist unten, und anschließend sollten wir uns etwas ausruhen, meinst du nicht? Du siehst ziemlich erschöpft aus.«
    Ich hatte Nella auch schon entspannter gesehen, doch ich begnügte mich damit, zu nicken und mir meinen Teil zu denken. Denn die vermutlich frohen Gesichter des Kinderheims vergessen zu haben, war natürlich schlimm. Doch weit schlimmer musste es sein, möglicherweise den eigenen Zwilling vergessen zu haben. Nun ja, und noch einige andere Dinge, die noch weitaus übler waren, wenn man Madame Rosencrantz Glauben schenken mochte. Jetzt, wo ich Nella die schwach beleuchtete Treppe in die Küche hinunter folgte, schlichen sich ihre Worte an mich heran. »Dass die kleine Nella leben durfte, verdankt sie wahrscheinlich ihrem starken Willen und ihrer großen Ähnlichkeit mit Antonia«, schreibt Madame Rosencrantz irgendwo in Die Königin der Gespenster. »Antonia ist einfach davon ausgegangen, dass Nella der lebenstüchtigere Zwilling war, und hat ganz offensichtlich gehofft, dass sie das Gesamtwerk weiterführen würde, wenn sie erst erwachsen war. So viel Glück hatte die andere kleine Tochter, Bella, leider nicht. Bevor das Mädchen sechs Jahre alt war, nahm Antonia die Sache in die Hand, erwürgte sie und begrub sie im Park neben Simon. Antonia wollte dem Wahnsinn ein Ende bereiten, doch sie bekämpfte ihn mit einem Wahnsinn, der viel, viel schlimmer war. Die Ironie des Schicksals kleidet sich immer wieder in neue Gewänder, doch die Tragödie bleibt die gleiche.«
    Nella hatte mir das Gesicht halb zugewandt. Sie versuchte, meinen Blick einzufangen.
    »Du bist so still?«
    »Ach, ich musste an die Geschichte von Madame Rosencrantz über Bella und den Kindermord denken. Du glaubst doch nicht …?«
    Das kühle Blau der Küche breitete sich im gleichen Moment über Schranktüren, Gardinen und Küchenutensilien aus, und Nella wirkte sehr blass. Ihre Wangen waren ganz weiß.
    »Nein, ich glaube nicht, dass ich eine Zwillingsschwester namens Bella gehabt habe, die Mutter erwürgt und im Park begraben hat, wenn es das ist, wonach du fragen willst«, sagte sie.
    Meine Füße blieben wie von selbst stehen. Die Küche von Liljenholm war weit größer, als ich sie mir vorgestellt hatte, ja, sie war größer als alle Küchen, die ich bisher gesehen hatte. An dem großen länglichen Tisch, der mitten im Raum stand, musste Platz für mindestens dreißig Bedienstete sein, und auf dem Herd hatten leicht zehn Töpfe auf einmal Platz. Die Dielen vor dem dunkelgebeizten Küchentisch waren auf eine äußerst anheimelnde Weise abgenutzt. Nella näherte sich langsam der Stelle und fuhr mit dem Finger über die staubigen Deckel einer größeren Sammlung von Metalldosen.
    »Alles hier erinnert mich noch immer an Laurits«, sagte sie und sah sich schnell um. Sie atmete tief durch. »Alles, verstehst du? Es ist kaum auszuhalten, dass das so ist. So viele Jahre nach ihrem Tod.«
    Über den Küchentisch zwängten sich zwei schwarze Fenster, und ich trat zu ihnen und beugte mich vor.
    »Woran ist Fräulein Lauritsen gestorben?«
    Die Fenster waren so niedrig, dass sie mit dem Boden draußen bündig waren. Nella streckte die Hand aus und öffnete systematisch eine Dose nach der anderen. Sie schnüffelte an einigen und runzelte die Stirn.
    »An Altersschwäche, glaube ich. Sie war damals schon alt, über siebzig, soweit ich weiß.«
    »Siebzig ist doch kein Alter!«
    Nella hielt triumphierend eine Dose hoch.
    »Habe ich es mir doch gedacht. Echte Teeblätter! Wir können richtigen Tee machen, ist dir das klar?«
    »Alten Tee.«
    Ich verstand nicht einmal selbst, warum ich so mürrisch war. Nach der Wüstenwanderung durch Teesurrogate, die wir im letzten Jahr hinter uns gebracht hatten, war selbst antiker Tee bei Weitem

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