Das Turmzimmer
vorzuziehen. Nella verdrehte auch nur die Augen.
»Du kannst dir gerne deine Apfelblätter holen, sie liegen draußen im Koffer«, sagte sie und füllte einen schmiedeeisernen Kessel mit Wasser, setzte ihn schwungvoll auf den Herd und legte Holzscheite ein. Sie riss ein Streichholz an und noch eins. Es dauerte verdammt lange, bevor eins wirklich brannte. Es war seltsam, sie so zu sehen: zu Hause an einem Ort, der nicht mein Zuhause war. Jetzt zog sie einen Schemel zum Ofen hin und setzte sich, die dünnen Arme um die Knie geschlungen, als wäre sie ein kleines Mädchen, das irgendetwas in der Luft betrachtete. Ich kann es nicht anders beschreiben. Etwas oder jemanden. Dann lächelte sie, wandte den Blick zu Simons altem Arbeitszimmer hin und nickte.
»Was siehst du?«
Sie zuckte zusammen. In dem Moment begann das Wasser zu kochen. Sie stand auf, holte zwei filigrane Teetassen aus einem Schrank hinter dem Herd und gab Wasser und Teeblätter in die dazugehörige Kanne.
»Ich sehe nichts«, sagte sie. »Siehst du vielleicht etwas?«
Und das tat ich. Ich sah, dass Nella zur Ruhe gekommen war.
»Was hältst du davon auszupacken?«, fragte sie kurz darauf. Nach zwei Tassen dampfend heißem Tee, der sich beherzt bemüht hatte, uns von innen zu wärmen.
»Und ein paar Stunden zu entspannen?«, fuhr sie fort. »Dann können wir uns morgen daranmachen, das achtbare Erbe meiner Mutter durchzugehen.«
Sie legte den Kopf leicht schief, und ich wusste nur zu gut, was das zu bedeuten hatte.
»Du schlägst vor, dass ich auspacke, richtig?«
»Wenn du Lust hast?«
Ich konnte nicht sagen, dass ich wirklich Lust hatte, aber mir war noch weniger danach, mit Nella zusammen zu sein, wenn sie in Wirklichkeit lieber alleine sein wollte. In der Regel spielte sie dann Klavier oder lag mit geschlossenen Augen einfach nur da und atmete so schwach, dass ich sie mehrere Male beinahe geschüttelt hätte aus Angst, sie könnte tot sein.
»Oben in Antonias und Lilys altem Schlafzimmer. Ich schlage vor, dass wir dort schlafen, du kannst also dort auspacken«, sagte sie.
»Im Selbstmordzimmer?«
Die Frage kam spontan aus mir heraus, und das war gar nicht so verwunderlich, wenn ich das einmal so sagen darf. Ich war mir nahezu hundertprozentig sicher, dass das Fenster dort oben den Rahmen für die letzte Reise mehrerer Liljenholmer ins Rosenbeet gebildet hatte, doch Nella zuckte nur mit den Schultern.
»Wenn du meinst, kannst du deine Matratze natürlich auch gerne in eins der anderen Zimmer den Gang hinunter schleppen«, sagte sie, und mir dämmerte etwas. Antonia und Lily hatten die Möbel oben verkauft, um wieder flüssig zu werden, als Horace und Clara mehr oder minder freiwillig aus dem Leben geschieden waren. So war das. Und als Simon verschwunden war, hatte Antonia ihr Ehebett und die übrigen Schlafzimmermöbel wohltätigen Zwecken gespendet. Wer weiß, warum sie nicht auch die Möbel aus dem Selbstmordzimmer weggegeben hatte, wo sie denn schon einmal dabei gewesen war, die Etage auszuräumen. Jedenfalls war das Selbstmordzimmer das einzige möblierte Zimmer dort oben, und es konnte keine Rede davon sein, dass ich in einem leeren Zimmer ohne Nella schlafen wollte!
»Ich werde alles für uns herrichten«, sagte ich, entschieden, wie ich hoffte, und Nella nickte. Doch an ihren Augen sah ich, dass sie mit ihren Gedanken bereits an einem anderen Ort war.
»Dann sehen wir uns später«, erwiderte sie und nickte Richtung Treppe. »Ich werde nach oben gehen und spielen.«
Sie hatte sich bereits abgewandt, als ich Ja sagte, und ich stutzte kurz. Wenn ich mich nicht sehr irrte, sprach sie mit sich selbst, als sie die Treppe hinaufstieg. Oder murmelte, trifft es vielleicht eher. Bald hörte ich sie erst einen und dann noch einen Ton anschlagen. Das Klavier war nicht gestimmt, doch das hinderte sie nicht daran weiterzuspielen. Wieder hörte ich jemanden reden. Nella, vermutlich. Doch es klang nicht mehr wie sie.
Inzwischen habe ich Nella viele Male Klavier spielen hören, und sie spielt wirklich ausgezeichnet. Das muss sie auch. Sie hat mehrere Jahre als Klavierlehrerin gearbeitet, bevor sich ihr die Möglichkeit bot, den Verlag zu übernehmen. Doch wenn sie nur für sich spielt, winden sich die Melodien auf eine Weise ineinander, die nicht von dieser Welt ist. Hin und wieder erkennt man vielleicht den Ansatz eines Verlaufs, doch nur allzu schnell geht er in eine leise Monotonie über, die über Stunden anhalten kann. Meine beste Art zu
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