Das Turmzimmer
Tage. Die meiste Zeit döst sie vermutlich vor sich hin, und ansonsten nehme ich an, dass sie etwas in ihren alten Lieblingsbüchern liest oder an Geschichten schreibt. Ich hoffe und bete, dass das, was sie schreibt, niemals ans Licht kommt.
Ich möchte auch gleich erwähnen, dass deine Kusine Nella mein Schmerzenskind ist. Seit sie ein Säugling war, hat sie Lily so sehr an dich erinnert, dass sie es kaum aushalten konnte, mit ihr in einem Zimmer zu sein. Mit jedem Jahr, das vergangen ist, ist Lily verbitterter und trübsinniger geworden, obwohl Nella die reizendste Tochter ist, die man sich wünschen kann. Freu dich darauf, sie kennenzulernen, Agnes. Ich habe so oft gedacht, dass ihr beiden euch mögen würdet, und, wer weiß, vielleicht werdet ihr ja sogar enge Freundinnen. Zu meiner Freude hat Nella sich gut entwickelt, und das hast du ja auch, wie ich von Lillemor gehört habe.
Wir sind jetzt bei der einzigen meiner Sünden angelangt, auf die ich ein wenig stolz bin. Die siebte in der Reihe. Als Antonia in den Turm verbannt worden war, haben Lily und ich den untauglichen Herrn Simon vor die Tür gesetzt und ihm das Zusammensein mit Nella verboten. Zweimal im Jahr habe ich ihm jedoch für einen ansehnlichen Betrag, der mit der Zeit wuchs, einen kurzen Brief geschrieben, wie es Nella ging. Er hat seine Tochter schließlich vermisst, und damals fehlten mir außerdem die nötigen Mittel für deinen Unterhalt, da Antonia von Liljenholms Bücher sich nicht mehr so gut verkauften, wie sie das einmal getan hatten. Und so konnte es gehen, dachte ich. Herrn Simons Geld ging jedenfalls ungeschmälert an dich, und noch einmal: Ich erwarte keinen Dank, aber vielleicht hoffe ich auf ein klein wenig Verständnis. Trotz allem bist du in gut situierten und glücklichen Verhältnissen aufgewachsen, nicht wahr?
Ich weiß von Lillemor, dass du nicht ganz so geworden bist, wie ich es ihr in Aussicht gestellt habe, doch sie sagt, dass du Talent zum Schreiben hast. Sie meint, dass du es unter den richtigen Voraussetzungen weit bringen kannst, vielleicht sogar weiter als deine Mutter. Ich weiß nicht, ob dieser Brief als Beweismaterial ausreicht, dass Titel und Erbe an dich gehen, Agnes. Doch du sollst wissen, dass ich auch mit dieser Hoffnung mein Bekenntnis ablege. Ich habe immer für alle das Beste gewollt, doch wie Paulus so richtig schreibt: »Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.«
Im Moment lausche ich Antonias Jammern oben im Turmzimmer, weil es Zeit für ihre Abenddosis Morphium ist. Ich werde ihre Spritze vorbereiten, sobald ich meinen Begleitbrief an Lillemor geschrieben und den Umschlag mit einer Adresse versehen habe, und dann werde ich beten, dass meine letzten beiden Wünsche erfüllt werden: dass du sofort dieses Tagebuch bekommst und dass meine geliebte Antonia nicht in wenigen Tagen zusammen mit mir in den Tod geht. Lily und ich sprechen nur selten miteinander, sodass ich nicht weiß, ob sie ihre Schwester so hasst, dass sie sie dort oben ihrem Schicksal überlassen wird, und Nella ist zu jung und zerbrechlich, als dass ich sie einweihen kann.
Deshalb bitte ich dich aus ganzem Herzen, Agnes, tue, was immer du kannst, um meine Antonia zu retten. Zumindest ist es mir gelungen, dich rechtzeitig von hier fortzubringen, nicht wahr? Hin und wieder muss jemand sein Leben lassen, um andere stärker zu machen, mein Mädchen. Deine Mutter und ich wären so stolz, wenn du den Familiennamen weiterführst.
Deine ergebene
Agnes Lauritsen
August 1947
Ein neues Ende
Wie Sie sehen, habe ich es nicht mehr geschafft, auch nur noch ein einziges Wort hinzuzufügen zu dem Buch, das Nella veröffentlicht hat und das Sie gerade gelesen haben. Mein Buch, möchte ich unterstreichen. In Anbetracht der Vorgeschichte sollte ich vielleicht dankbar sein, dass sie meinen Namen nicht gegen ihren eigenen ausgetauscht hat, wo sie schon einmal dabei war, ein Pseudonym zu suchen. Doch selbst jetzt, vier Jahre später, habe ich noch immer Schwierigkeiten damit, als A. von Liljenholm auf dem Titel zu stehen. Auch wenn Nella behauptet, meinen Namen in bester Absicht geändert zu haben. An den Buchtitel habe ich mich auch nicht gewöhnt. Nicht, dass ich irgendetwas gegen Das Turmzimmer hätte. Ich ziehe es nur vor, dass solche Entscheidungen in meinem Kopf und nirgendwo anders getroffen werden. Doch wie Nella so richtig sagt: In dem Fall hätten wir bis zur Veröffentlichung des Buchs lange
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