Das Turmzimmer
sich nimmt. Du warst schließlich im gleichen Alter wie Agathe, und mit der richtigen Erziehung war ich mir sicher, dass du genauso schön und talentiert werden würdest wie deine Mutter. Als sie deinen Tod nämlich überwunden hatte, wurde sie eine berühmte Autorin, Agnes. Aus diversen Gründen schrieb sie unter dem Namen ihrer Schwester, Antonia von Liljenholm – du kennst den Namen vermutlich –, und damals verkauften sich ihre Bücher so gut, dass es auf Liljenholm reichlich Geld gab. Deshalb konnte ich Lillemor einen ansehnlichen monatlichen Beitrag für deinen Unterhalt anbieten und darüber hinaus eine feste Abnahmegarantie für die Agathe-Kleider, und dieses Versprechen habe ich gehalten. Ich schreibe das nicht, damit du mich lobst. Ich weiß sehr wohl, dass mein Sündenregister viel zu lang ist für diese Art von Erkenntlichkeiten. Und es ist leider noch länger.
Einige Jahre konnte ich erleichtert aufatmen. Lily sprach nicht mehr von dir und brachte einen Fortsetzungsroman und Roman nach dem anderen heraus, und bei einem einzigen Anlass bot sich mir sogar die Gelegenheit, dich zu sehen. Ich weiß nicht, ob du dich an das Fest der Silberhochzeit von Tante Anna erinnerst? Du warst etwa zehn Jahre alt, und Lillemor hatte ein Kleid für dich genäht, das vielleicht nicht das kleidsamste war. Aber trotzdem sahst du Lily so ähnlich! Ich wagte kaum, mich dir zu nähern, aus Angst, alles zu verraten. Doch ich beobachtete dich, wie du dasaßest und den spielenden Kindern zusahst. Das ist eine liebe Erinnerung für mich, Agnes, das musst du wissen.
Kurz darauf bekam Antonia eine Tochter mit ihrem Verleger, Simon. Deine Kusine Nella, die zehn Jahre jünger ist als du und das Gut erben wird, wenn Lily einmal stirbt, obwohl sowohl das Gut als auch der Titel alleine dir zukommen, soweit ich das sehe, Agnes. In dem Augenblick, in dem Nella zur Welt kam, brach Lilys Wunde wieder auf. Sie hatte die schlimmsten Wutanfälle. Eines Tages, als ich in der Stadt war, um einzukaufen, richtete sie dir ein ganzes Zimmer ein. Das Spielzimmer nannte sie es. Sie hat behauptet, dich in dem Raum spüren zu können, doch das machte alles nur noch schlimmer. Mehrere Male hätte sie sich dort drinnen beinahe umgebracht, während sie heulte, dass du am Leben seist und dass ich dich ihr weggenommen hätte. Zu diesem Zeitpunkt war es zu spät, ihr die Wahrheit zu sagen.
Außerdem hatte ich genug mit Antonia zu tun, die genau wie ihre Mutter nach der Geburt wahnsinnig wurde.
Bald kann ich nicht mehr schreiben, mein liebes Mädchen. Deshalb werde ich alles nur noch in groben Zügen schildern und dich ansonsten auffordern, in mein Zimmer auf Liljenholm zu gehen, wenn du mehr über deine Familie wissen willst. Nella wird dir sagen können, wo sie sind. Ich habe all die Jahre Tagebuch geschrieben, und viele Jahre lang hatte ich die Absicht, die Tagebücher vor meinem Abgang zu vernichten. Doch stattdessen habe ich mich entschlossen, sie für dich aufzubewahren, damit du deine Familie besser kennenlernen kannst. Du musst Nachsicht mit mir üben, dass meine Sünden in diesem Buch besser beschrieben sind als in allen Tagebüchern, in denen ich mich hauptsächlich in der harmlosen Auslegung der Wirklichkeit geübt habe. Du musst nur die Klappe im Boden öffnen. Unter dem runden Teppich. Ich habe sie in einer großen Metallkiste versteckt, die hoffentlich die Mäuse ferngehalten hat (und hab keine Angst vor ihnen, sie tun niemandem etwas).
Jetzt will ich nur erwähnen, dass es darauf hinauslief, dass wir Antonia im Turmzimmer einsperrten, wo sie sich noch immer befindet, während ich das schreibe. Sie hat sich längst mit der Situation abgefunden, und das habe ich auch. Selbst wenn es für eine alte Seele wie mich ein weiter Weg in den Turm ist, gehe ich ihn mit Freude mehrmals am Tag. Anfangs hat Antonia mich gehasst und mich jedes Mal, wenn ich gekommen bin, Mörderin genannt. »Du hast meine Mutter und meinen Vater umgebracht«, hat sie gesagt. Das stimmt auch, doch mir ist immer noch nicht klar, woher sie das weiß. All die Jahre hat sie keinen anderen Menschen als mich gesehen. Ja, man kann wirklich mit Recht sagen, dass ich ihr Ein und Alles bin, auch wenn die Kleider deiner Lillemor für sie dort oben zu einer Leidenschaft geworden sind. Sie spielt Verkleiden mit ihnen, und sie liegt oft auf Lilys alter Chaiselongue, nach der sie immer wieder gefragt hat, bis wir sie ihr nach oben geschafft haben. Vielleicht erinnert sie sie an die alten
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