Das Turmzimmer
du das verstehst, wenn du den Rest hörst, doch gut zu leben war zu diesem Zeitpunkt wichtiger für mich als die Wahrheit. Dazu bedurfte es nicht mehr als eines guten Lohns und der Aussicht, ein herrschaftliches Leben führen zu können. Deshalb sagte ich zu niemandem ein Wort, nicht einmal zu mir selbst, und, was noch viel schlimmer war, ich spielte nach bestem Vermögen mit.
Ich gab vor zu glauben, dass Herrn Horaces gebrechliche Ehefrau, Frau Clara, furchtbare Angst vor den Gespenstern hatte und dass die beiden kleinen Zwillinge Antonia und Lily sich nur ungewöhnlich nahestanden wie die beiden Seiten einer Münze. Ich erzähle dir das hier, weil du mit ihnen verwandt bist. Liljenholm ist ein merkwürdiger Ort, voller Phänomene, die sich rational nicht erklären lassen, doch die boshaften Gespenster sind wohl kaum eins davon. Dinge verschwanden hin und wieder und tauchten an merkwürdigen Orten wieder auf, und das Gut knarrte, wie alte Häuser das nun einmal tun. Doch hatten wohl kaum die Gespenster etwas damit zu tun. Das war nur Herr Horace. Er spukte auf seine ganz spezielle Weise. Er erschreckte die arme Frau Clara, indem er ihre Sachen verlegte und sonderbare Dinge mit den Mädchen anstellte, die kein Vater mit seinen Kindern anstellen sollte. Den Rest kannst du dir bestimmt denken. Das kann ich mir bei der Mutter, die du hast, gut vorstellen.
Die Mädchen waren erst ein paar Jahre alt, als ich begann, sie durch das Schlüsselloch zu beobachten. Ich sah sie nackt auf dem Bett, Herrn Horace in ihrer Mitte. Frau Clara wusste es auch, und sie war außer sich, bis Herr Horace sie mit Morphium ruhigstellte. So vergingen mehrere Jahre voller banger Ahnungen. Die Übergriffe von Herrn Horace nahmen zu, die Mädchen rückten immer enger zusammen, bis sie dort im Schlüsselloch fast zu einer Person zusammenschmolzen. Leider waren sie mir inzwischen ans Herz gewachsen. Nimm dich vor so etwas in acht, mein Mädchen. Man kann nicht gleichzeitig klar denken und lieben, ich konnte es jedenfalls nicht. In meinem Kopf sagte ich mir, dass die Mädchen schon klarkommen würden, wenn ich sie nur genug liebte und so tat, als würde nichts von all dem geschehen. Man kann das als eine harmlose Auslegung der Wirklichkeit bezeichnen. Jeden Abend übte ich sie in meiner Einsamkeit ein, bis ich fast selbst daran glaubte. Doch ein entscheidendes Ereignis hatte ich nicht vorausgesehen.
Damals hatte ich bereits herausgefunden, dass Herr Horace damals sehr viel erfolgreicher darin gewesen war, seine Zwillingsschwester, Hortensia, zu schwängern als seine Ehefrau. Während Hortensia als Vierzehnjährige in den Tod sprang, weil sie sein Kind in sich trug, wartete Frau Clara dreißig Jahre vergebens, bis sie in aller Heimlichkeit von Herrn William vom Nachbargut schwanger wurde. Antonia und Lily waren somit nicht Herrn Horaces biologische Töchter, obwohl er das allem Anschein nach glaubte. Ich schreibe das, weil ich davon ausgehe, dass du das bald als mildernden Umstand verstehen wirst.
Denn Herr Horace schaffte es auch, Lily mit vierzehn zu schwängern. Eigentlich hätte ich darauf vorbereitet sein müssen, doch stattdessen war ich schockiert. Ja, das waren wir alle. Antonia und Lily wollten nicht voneinander getrennt werden, ich wollte nicht von den beiden getrennt werden, und Lily litt furchtbar unter der Schwangerschaft. Mehrere Monate nahm sie ab, obwohl sie hätte zunehmen sollen. In ihrem allmählich immer umnebelteren Zustand traf Frau Clara eine Entscheidung, für die sie nicht lange genug lebte, um sie schließlich zu bedauern. Sie beschloss, die inzwischen sichtbar schwangere Lily mit dem einzigen Mann zu verheiraten, der sie mit Sicherheit wollte. Nämlich mit Herrn William. Er war seit mehreren Jahren in Frau Clara verliebt, was ihn vermutlich nicht erkennen ließ, dass das Mädchen seine eigene Tochter war. Obwohl er sich ausrechnen konnte, dass sein persönlicher Diener, Jens Nielsen, sie unmöglich vergewaltigt haben konnte. Jens Nielsen beteuerte das unzählige Male. Er kannte Lily nicht einmal, und doch wurde er zu zwanzig Jahren Zuchthaus wegen Vergewaltigung verurteilt, wenige Monate bevor die Hochzeit stattfinden sollte.
Jetzt sind wir bei meiner dritten und größten Sünde: Ich habe Herrn Horace und Frau Clara umgebracht, um Lily vor einem Leben als Ehefrau ihres Vaters zu retten. Ich kann schreiben, dass ich das nicht gewollt habe, falls dadurch die Tatsache leichter zu akzeptieren ist, doch das ist gelogen. Es
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