Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Tagen nicht mehr gesehen worden war. Dessen daraufhin vernommener Zimmerkollege Puchlins, der in der gleichen kleinen, gerade erst selbstständig gewordenen baltischen Republik wie Tumakow beheimatet war, verwickelte sich rasch in Widersprüche und gab schließlich zu, seinen Landsmann im Streit mit einer Axt erschlagen zu haben. Den Kopf und die anderen Körperteile der Leiche habe er abgetrennt, in der Hoffnung, so nicht in Verdacht zu geraten; zusammen mit den Kleidern habe er sie in ein Bündel verschnürt und in einen etwa 50 Kilometer entfernten Fluss geworfen. Dort konnten sie rasch gefunden werden. Das Portemonnaie des Opfers, das Puchlins zunächst eingesteckt hatte, war ihm noch in unmittelbarer Tatortnähe aus der Tasche gefallen. Er hatte das bemerkt, es gesucht, aber nicht wiederfinden können. Wäre ihm das gelungen, so wäre er wahrscheinlich straflos davongekommen. »Unsere Asylbewerber kommen und gehen, oft kehren sie von selbst, ohne sich abzumelden, in ihre Heimat zurück«, sagte im Prozess der Heimleiter. Das Opfer wäre also nie vermisst, die Leiche nie identifiziert worden. So aber wusste Puchlins, dass die Polizei ihn bald finden würde, und unternahm dennoch keinen Versuch zu fliehen. Das machte mich schon etwas stutzig, bevor ich ihn persönlich kennen lernte. Denn die Presse hatte nicht nur den Horror des Leichenfundes breit ausgewalzt, um damit die Kaltherzigkeit des Mörders zu belegen, sondern auch wild über einen Berufskillerauftrag der russischen Mafia spekuliert.
Fünf Monate nach der Tat bekam ich Puchlins erstmals zu Gesicht. Ihn hatte inzwischen eine tiefe depressive Verzweiflung erfasst, er sprach mit niemandem mehr und war wegen drohender Selbstmordgefahr ins Lazarett einer großen JVA überführt worden, an dem auch ein Gefängnispsychiater tätig war. Dieser, ein engagierter Altlinker, hatte mich dem Gericht als Gutachter vorgeschlagen. So saß ich im Arztzimmer, einem freundlichen, hellen, mit Bildern und Blumen ausgestatteten Einsprengsel der Außenwelt in dem finsteren, kahlen und rissigen Gefängnistrakt, einem fünfundzwanzigjährigen schlanken, gut aussehenden jungen Mann gegenüber.
Wir waren nicht allein. Ich hatte einen Dolmetscher mitgebracht, einen Russlanddeutschen, der während der Perestroika-Jahre einer der Sprecher dieser Minderheit in Moskau gewesen war, einen ruhigen, väterlichen Mann Mitte fünfzig. Aber bald stellte sich heraus, dass ich weite Strecken unseres Gespräches mit Puchlins direkt auf Russisch führen konnte.
Über fast alles aus seiner Lebensgeschichte konnte er flüssig berichten. Bei einigen Themen geriet er jedoch ins Stocken oder begann heftig zu weinen. Dazu gehörten nicht nur der Tathergang und die Erwähnung des Opfers, sondern der gesamte Bereich seiner Sexualität. Ich insistierte darauf zunächst nicht und redete mit ihm über andere Dinge, um ihm Gelegenheit zu geben, mich etwas besser kennen zu lernen. Schon bei unserem zweiten Gesprächstermin war er in der Lage, auch über heikle Themen einigermaßen flüssig Auskunft zu geben.
Bei allen unseren Unterredungen zeigte sich Puchlins höflich und wohl erzogen, etwas schüchtern und eher skrupulös. Der Gefängnispsychiater, der ihn schon ein paar Monate kannte, schilderte ihn mir als einen äußerst korrekten, pflichtbewussten, disziplinierten, ja etwas zwanghaften jungen Mann. Aber Puchlins konnte auch sehr warmherzig von seiner Verlobten erzählen. Schon beim zweiten Gesprächstermin zeigte er innerlich bewegt mir und dem Dolmetscher seine Familienfotos. Ich gewann den Eindruck, dass auch ihm daran lag, mit uns herauszufinden, was für ein Mensch er war und wie es zu dieser Tat hatte kommen können.
Aus dem, war er uns über seine Kindheits- und Jugendjahre berichtete, ging hervor, dass er einer Familie entstammte, durch die seit drei Generationen ein Riss ging. Der Großvater väterlicherseits, Kommunist, hatte sich nach 1945 an der Jagd auf die Partisanengruppen beteiligt, die sich nach der Vertreibung der deutschen Besatzungstruppen aus deren Kollaborateuren, aber auch aus nationalistischen Sowjetgegnern in den dichten Wäldern des Landes zusammengefunden hatten und von dort aus Attentate verübten. Auch der Vater hatte in der Sowjetmiliz Karriere gemacht, in dem Stadtviertel, in dem die Familie lebte, war er gefürchtet und hatte das Sagen. Er war, wie Puchlins sagte, zwar kein Parteimitglied, aber ein bedingungsloser Anhänger des »alten Systems«, Gegner der Perestroika
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