Das Unglück der kleinen Giftmischerin
und aller nationaler Unabhängigkeitsbestrebungen, nicht so sehr aus politischer Überzeugung, sondern weil Disziplin, Zucht und Ordnung ihm über alles gingen. Zu Hause war er ein Tyrann, der, obwohl er nicht trank, schon bei kleinen Widrigkeiten Frau und Kinder schlug und nach festem Glauben der Mutter immer wieder Affären mit anderen Frauen hatte, und Puchlins vermutete, dass die ständige Eifersucht der Mutter auch nicht ganz unbegründet war. Anders als die meisten seiner Landsleute war Puchlins nicht getauft worden, in die Kirche ging auch niemand von seinen Angehörigen, jede Art religiöser Betätigung wäre mit der Position des Vaters als Polizeichef des Stadtteils unvereinbar gewesen. Die Familie lebte in einem bescheidenen materiellen Wohlstand, der Vater verfügte sogar über ein eigenes Auto.
Über den Großvater mütterlicherseits durfte in der Familie nicht gesprochen werden, ein striktes Tabu lag über seinem Lebensschicksal. Puchlins wusste nur, dass er im Krieg oder gleich danach »irgendwie« auf eine nicht sehr ehrenvolle Art umgekommen war: Entweder hatte er mit den deutschen Besatzern kollaboriert oder er hatte zu den antisowjetischen Partisanen gehört. Vielleicht traf auch beides zu, Puchlin wusste es nicht genau. Nicht alle Kollaborateure waren schließlich Faschisten gewesen. Manche von ihnen hatten die Deutschen 1941 als Befreier vom Sowjetjoch begrüßt und zunächst gutgläubig mit ihnen zusammengearbeitet. Als sie sahen, dass die »Befreier« aus ihrem Land einen Siedlungsraum für »Deutschblütige« machen wollten, waren viele schon so eng mit ihnen verstrickt, dass sie sich von ihnen nicht mehr lösen konnten. Was nun beim Großvater mütterlicherseits im Einzelnen der Fall gewesen war, ließ sich nicht aufklären. Die Mutter jedenfalls war, vielleicht im Andenken an ihn, seit dem Anbruch der Perestroika eine leidenschaftliche Anhängerin der Unabhängigkeitsbestrebungen der kleinen Sowjetrepublik geworden, und Puchlins schloss sich dieser Meinung etwa ab 1989 auch an, im Gegensatz zu seiner Schwester, die mit dem Vater eine Befürworterin des »alten Systems« blieb.
Puchlins’ eigenes Leben war, bis Ende der Achtzigerjahre, ebenso planvoll wie ereignislos verlaufen. Seine Spielkameraden wurden vom Vater handverlesen, selbst durfte er sich keine Freunde suchen, dazu war der Vater zu sehr auf seine Reputation als Polizeichef bedacht. Das brachte eine gewisse Vereinsamung, jedenfalls eine Beschränkung des ihm zur Verfügung stehenden Territoriums auf die eigene Familie mit sich. Aber es gab für ihn auch ein Kinderparadies: bei der Großmutter mütterlicherseits, die auf dem Lande lebte und deren Liebling Puchlins war. Von ihr wurde er in den Ferien dort »grenzenlos verwöhnt«. Wie bei vielen Straftätern, die über schwierige Beziehungen zwischen den Eltern berichten, tauchte auch bei Puchlins als Kontrast dazu eine großelterliche Idylle auf.
Durch die Schule kam Puchlins problemlos, wenngleich nur mit mäßigen Noten, anders als die ein Jahr jüngere Schwester, die trotz ihrer Körperbehinderung besser war als er. Der Vater drängte ihn, die Mittelschule nach der achten Klasse zu verlassen und auf das landwirtschaftliche Technikum, eine Art Berufsschule, überzuwechseln, das er noch vor dem Militärdienst mit Führerschein und vielen praktischen Kenntnissen beenden könne - und wie er es gewohnt war, gehorchte er ihm. Ich fragte ihn, ob er nicht, wie alle Jungen, von einem Lieblingsberuf geträumt habe. Architekt hätte er werden wollen, sagte er, aber der Vater war dagegen und es bot sich dafür auch keine Möglichkeit an. Das Technikum beendete er 1988 mit sehr guten Noten. Das brachte ihm einen Studienplatz an der Landwirtschaftsakademie in der zweitgrößten Stadt des Landes ein und die Aussicht, Landwirtschaftsingenieur zu werden. Dort aber scheiterte er im dritten Semester an einer Prüfung. Mittlerweile hatte die Perestroika zu einer inflationistischen Verteuerung des Lebensunterhaltes geführt, das am Technikum noch reichlich bemessene Stipendium reichte nicht mehr, er musste nebenher arbeiten und das ließ ihm nicht mehr genug Zeit zum Lernen. Der Vater sagte, er hätte ihm mit dem Technikum zu einer guten Berufsausbildung verholfen und könne ihn auf der Akademie nicht weiter unterstützen. So brach Puchlins nach der verhauenen Prüfung sein Studium ab, schlug sich zunächst mit kleinen Jobs durch und wandte sich dann ab 1990 dem »Business« zu.
Das war eine
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