Das Unglück der kleinen Giftmischerin
diagnostizierte, die in juristischer Terminologie zwar als »schwere andere seelische Abartigkeit« zu klassifizieren wäre, jedoch im Tatmoment zu keiner erheblich verminderten Schuldfähigkeit geführt habe, wollte der andere, Prof. Z., eine solche erhebliche Verminderung nicht ausschließen, weil er die charakterlichen Auffälligkeiten Kältlichs nicht einer schizoiden Persönlichkeit, sondern einer erheblich schwerwiegenderen und psychosenäheren »schizotypischen« Störung zuordnete. Trotz dieses diagnostischen Dissenses unterschieden sich aber die von den Gutachtern hervorgehobenen auffälligen Persönlichkeitsmerkmale Kältlichs nur unwesentlich voneinander. Zu ihnen gehörte ein leichter Waschzwang, eine Kontaktscheu, insbesondere, aber nicht allein gegenüber dem weiblichen Geschlecht, eine Faszination für Waffen, Militär- und Kriegsgeschichte sowie eine totale Identifikation mit soldatischen Tugenden wie Disziplin, Härte, Gehorsam und die Hintanstellung moralischer Hemmungen, wenn es um die Sache geht, der man sich verschrieben hat. Auf beide Gutachter wirkte Kältlich spröde, verschlossen, kühl, starr und emotionsarm, nur ab und an, z.B. wenn er von seiner Mutter sprach, zeigte er überhaupt Gemütsbewegungen. Das Gericht schloss sich der Auffassung von Prof. X. an, erklärte ihn für strafrechtlich voll verantwortlich und verurteilte ihn wegen Mordes zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe.
Ich bekam ihn zehn Jahre nach der Tat zu Gesicht: als sein Anwalt klären lassen wollte, ob Herrn Kältlich, der während der ganzen Zeit ein ruhiger, korrekter und höflicher Häftling gewesen war, nunmehr Hafterleichterungen wie Ausgänge, Urlaub und schließlich auch Freigang gewährt werden könnten.
Als mir Kältlich im Aufenthaltsraum der Haftanstalt für Langzeitgefangene entgegentrat, fuhr mir durch den Kopf: Er macht seinem Namen alle Ehre. Empfand ich es so, weil ich die Akten und beide Gutachten kannte?
Mittlerweile war er zweiunddreißig Jahre alt geworden, er sah aus wie ein gealterter Jüngling, nicht so sehr wie ein erwachsener Mann; alles an seiner Erscheinung, seine Gesichtszüge, seine Hände, seine Gliedmaßen und sein Rumpf, wirkte unharmonisch, so als hätte sein Schöpfer mehrfach versehentlich in die falsche Bausteinkiste gegriffen, als er ihn zusammensetzte. Auch Mimik und Gestik waren ungraziös, und wenn er sich bewegte, geschah dies abrupt und ruckartig. Seine Erscheinung war ohne Zweifel wenig einnehmend und ich versuchte mich dadurch nicht beeinflussen zu lassen. Er begrüßte mich höflich und an zwei aufeinander folgenden Tagen hörte ich mir im Besuchszimmer seine Geschichte an, oder zumindest das, was in den letzten zehn Jahren in seinem Kopf aus ihr geworden war und was er mir nun in einem etwas schnarrenden Kasinoton vortrug.
Er entstammte, das wusste ich schon, einer Flüchtlingsfamilie aus Schlesien. Der Vater hatte als leitender Angestellter bei mehreren großen Konzernen Karriere gemacht und war so zu beträchtlichem Wohlstand gelangt, die Mutter war Hausfrau geblieben. Die Eltern, mit denen ich einige Wochen später auch sprach, waren sehr kultivierte und warmherzige Menschen, denen die Familie über alles ging und die ihren Sohn, den sie weiterhin für unschuldig hielten, regelmäßig besuchten. Als Kind, berichtete dieser, hätte es schon mal Schläge bei kleinen Dummheiten gegeben, später dann Stubenarrest. Als er einmal an den Geldbeutel des Vaters gegangen sei, hätte er sich eine Ohrfeige eingefangen, aber als er etwas älter wurde, sei der Vater nach größeren Vergehen mit ihm spazieren gegangen und hätte ihm klar zu machen versucht, warum man dies und das nicht macht. Auch mit Streicheln und Küsschen seien die Eltern nicht geizig gewesen, er selbst hätte das aber nie besonders gemocht. Ich fragte ihn, ob er Dummheiten hätte begehen müssen, um etwas mehr Zeit und Zuwendung vom viel beschäftigten Vater zu ergattern, aber Kältlich wies dies empört zurück. Zumeist habe er sich an die häuslichen Regeln gehalten, Disziplin sei ihm schon früh zu einer Selbstverständlichkeit geworden, die Strafen hätte er akzeptiert und die Eltern als gerecht empfunden.
Auch mit seinen beiden Brüdern, berichtete er, hätte er sich gut verstanden. Er war der Älteste. Alle drei, der zwei Jahre jüngere Dirk und der acht Jahre jüngere Georg, seien ebenso wie er selbst außergewöhnlich gute Schüler gewesen: Dirk sei allerdings immer völlig mühelos Klassenbester
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