Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Meinung kommen, selbst nur weiterleben zu können, wenn ein anderer beseitigt ist. Mord bei Ehrverletzungen, bei tödlichen Kränkungen durch jemanden, den man liebt, beruht oft auf einem solchen Drang, mit dem Verursacher der Kränkung auch den eigenen Schmerz radikal wie ein Krebsgeschwür herauszuschneiden. Sie sind dann, wie Frau Minkat, für kurze Zeit erleichtert. Aber selbst wenn man den Schmerzverursacher physisch beseitigt hat, die Erinnerung an ihn und was einem von ihm angetan worden ist, werden einen weiter verfolgen. Ein solcher Schmerz kann nur von innen her überwunden werden und das kann länger als zehn Jahre dauern.
Kalkuliertes Risiko
An einem kalten Januarmorgen des Jahres 1982 hatte der Wachmann Winkelhuber, der das Gelände der Militärakademie in S. bewachte, sich nach Dienstschluss nicht wie sonst abgemeldet. Seine Kollegen, die ihn vermissten, machten sich deshalb auf die Suche nach ihm. Eine Stunde später fanden sie seine Leiche im Hörsaalgebäude. Sie wies über zwölf Messerstichwunden im Brust-, Bauch- und Rückenbereich auf, zudem war seine Kehle mit einem Messerschnitt durchtrennt worden. Die Dienstpistole des Wachmanns fehlte. In der Tür des Dienstzimmers eines Prüfers, Prof. Rothe, fanden sich jedoch Einschüsse, die aus dieser Dienstpistole abgefeuert worden sein mussten, wie sich wenig später herausstellte, als die Waffe in einem nahe gelegenen Waldstück gefunden wurde. Die Polizei schloss daraus, dass der Mord und der Einbruchsversuch in das Zimmer von Prof. Rothe von einem Studenten begangen worden waren, der an die dort verwahrten Klausurarbeiten heranwollte, da sich sonst keinerlei Wertgegenstände in diesem Raum befanden. Der Verdacht fiel auf den Oberfähnrich Josef Kältlich, der in den letzten Tagen mehrfach den vergeblichen Versuch unternommen hatte, vorzeitig sein Ergebnis zu erfahren, und kurz vor der Tat den Hochschullehrer dazu sogar in seiner Privatwohnung aufgesucht hatte. An seinen Händen wurden Schmauchspuren festgestellt, ohne dass er zu der Zeit irgendwelche Schießübungen zu absolvieren gehabt hätte. Zudem fanden sich auf der Toilette des Hörsaalgebäudes Papiertaschentücher mit Blutflecken, die zu seiner Blutgruppe passten.
Während der gesamten Ermittlungen und während der Hauptverhandlung bestritt Kältlich jedoch seine Täterschaft, so dass ein reiner Indizienprozess geführt werden musste. Zu den Indizien gehörte auch, dass der Karateanzug, den er am Tattag und in den Tagen davor nachweislich getragen hatte, verschwunden blieb. Das Gericht nahm an, dass der Täter ihn wegen der Blutspuren vernichtet oder irgendwo vergraben hatte. Auffällig war auch, dass Kältlich am Hauptbahnhof ein Schließfach für drei Tage angemietet hatte, in welchem sich nichts befand: Das Gericht vermutete, es hätte zur Aufbewahrung der Klausurarbeiten dienen sollen, die er vergeblich zu entwenden versucht hatte. Schließlich wiesen die Verletzungen des Wachmannes deutliche Ähnlichkeiten zu der Schilderung der Tötung eines gegnerischen Postens auf, wie sie in dem Buch »Messerkampf« zu finden ist, das im Zimmer von Kältlich sichergestellt wurde. An der Zimmertür des Professors fand sich ferner die Firmenplakette eines amerikanischen Survival-Messers, das zusammen mit der Waffe im nahe gelegenen Waldstück gefunden worden war. Das Messer war in Deutschland nur zweimal verkauft worden, eines nachweislich an Kältlich. Entscheidend für das Gericht waren aber zwei weitere Tatortspuren: ein Fingerabdruck Kältlichs am Klappfenster der Toilette, durch das er, wie man vermutete, ein- und ausgestiegen war, und nicht weit entfernt davon Anhaftungen von Opferblut. Aber auch unter dem Druck dieser Indizien blieb Kältlich dabei, am Tode des Wachmannes unschuldig zu sein. Die Schmauchspuren an seiner rechten Hand und die Anmietung des Schließfaches erklärte er mit seiner Mitgliedschaft in einer geheimen »Gruppe« von aktiven Soldaten, mit denen er nachts Schießübungen abgehalten hätte und von denen ihm befohlen worden sei, das Schließfach zu ihrer Verfügung zu halten. Da er das nicht belegen konnte und niemand in seiner Umgebung von einer solchen Gruppe wusste, wertete das Gericht diese Aussagen als Schutzbehauptung.
Kältlich wurde in dem Prozess von zwei renommierten Universitätspsychiatern begutachtet. Beide stellten bei ihm charakterliche Auffälligkeiten fest. Während einer von ihnen, Professor X., bei ihm eine »schizoide Persönlichkeitsstörung«
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