Das Unglück der kleinen Giftmischerin
geworden, während er sich dazu schon anstrengen musste. Auch bei den Mädchen hätte Dirk viel Erfolg gehabt, während er sich selbst an Frauen nicht herangetraut hätte. Schließlich hätte er sich gesagt, dass seine Qualitäten woanders lägen, nämlich in seinen intellektuellen Fähigkeiten. Kältlich äußerte dies mit einem leichten Trotz, irgendwie klang durch, wenn die Frauen so dumm seien, ihn links liegen zu lassen, seien sie selbst schuld. Als ich etwas intensiver in ihn drang, gab er zu, dass seine Scheu vor Frauen wohl auf seiner Angst beruhe, sich zu blamieren. Weder wolle er riskieren, in aller Öffentlichkeit zurückgewiesen zu werden, noch im Bett zu versagen, deshalb ginge er auch nicht ins Bordell. Durch den einstweiligen Verzicht auf Frauenbeziehungen, so war mein Eindruck, hatte er sich gleichzeitig jedoch auch den Traum erhalten, dass dann, wenn er es wirklich wollte, doch alles klappte: vom Kennenlernen an bis zu einer befriedigenden intimen Beziehung.
Inzwischen half er sich durch Selbstbefriedigung. Aus den Akten wusste ich, dass seinerzeit bei der Durchsuchung seines Zimmers sadistische Pornobilder zutage gefördert worden waren. Bei der Erhebung seiner Sexualanamnese war Kältlich darauf von selbst nicht zu sprechen gekommen. Auf meine Fragen räumte er aber freimütig ein, dass er diese Bilder als Onaniervorlage benötige, allerdings nur als Ausgangspunkt einer Fantasie, bei der er auf eine gefesselte und gefolterte junge Frau treffe und diese dann befreie. Irgendwann während dieser Befreiungsaktion komme es dann zum Samenerguss, die Vorstellung eines Geschlechtsverkehrs bräuchte er dazu gar nicht, die mache ihn auch gar nicht an. Ohne solche Fesselungs- und Folterbilder, als Fotos oder als Fantasien, könne er sich allerdings auch nicht befriedigen.
Mir fiel ein, dass ich mit zwölf oder dreizehn Jahren davon geträumt hatte, Mädchen, die ich verehrte - damals waren es zumeist Freundinnen meiner älteren Schwester -, aus einer Gefahr, einem Brand oder einer Überschwemmung, zu retten oder dass ich einer von ihnen, die stark kurzsichtig war, die Hornhaut eines meiner Augen spendete, und dass ich bei solchen Vorstellungen einen leisen Kitzel verspürt hatte, wenn ich mir vorstellte, dass sie mich danach dankbar küssten. War es bei Kältlich ähnlich? Aber dann kamen mir Zweifel, ob er mir überhaupt die Wahrheit gesagt hatte, ob seine sexuelle Befriedigung wirklich an die Vorstellung der Befreiung der Frauen oder doch an die ihrer Fesselung und Folterung gebunden war. Diese letztere Annahme schien mir besser zu seiner Person zu passen.
Die Faszination durch Militärisches, durch Schlachten und Krieg hatte sein Leben von Kindesbeinen an bestimmt. Mit fünf Jahren begann er mit Zinnsoldaten zu spielen, ein Großvater besaß eine Sammlung von Büchern zur Militär- und Kriegsgeschichte, daraus stellte er später Szenen nach. Bald hätte er sich für nichts anderes mehr interessiert und schon sehr früh sei ihm klar gewesen, dass er Berufsoffizier werden wolle. Die zentrale soldatische Tugend sei für ihn die Treue, deshalb habe er auch die Waffen-SS bewundert. Ihm imponierte auch deren Status als Elite - und ihre damit verbundene Macht. Er war immer sehr ehrgeizig gewesen, sich und seine Familie rechnete er einer geistigen Elite zu, der er das Recht zusprach, andere, weniger wertvolle Menschen zu opfern, wenn es einem vertretbaren Ziel diene. Wenn es zweckmäßig sei, dürften die Angehörigen einer solchen Elite wie der SS sich über Moral und Gesetz auch hinwegsetzen, so habe er damals jedenfalls gedacht. Völlig unvermittelt fügte Kältlich hinzu: Ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, ich sage Ihnen, dass der Anklagevorwurf stimmt. Und er präsentierte mir seine Version des Tatherganges.
Die unterschied sich nur in einem wesentlichen Punkt von derjenigen des Gerichts: Kältlich bestand darauf, die Tötung des Wachmannes sei nicht geplant gewesen: Er hätte diesen nur bewusstlos machen und ihm dann die Schlüssel zu dem Professorenraum abnehmen wollen, in dem die Examensklausuren lagerten. Dazu hätte er einen Stein in ein Taschentuch gewickelt, den er dem Wachmann an den Kopf warf. Der sei aber nur an der Schulter getroffen worden und hätte sich gleich auf ihn gestürzt. So wäre ihm »nichts anderes übrig geblieben«, als sich mit dem Messer zu »verteidigen«. Als der Wachmann dann blutüberströmt vor ihm auf dem Boden lag, hätte er sich gesagt, wenn man eine Sache beginne,
Weitere Kostenlose Bücher