Das Unglück der kleinen Giftmischerin
müsse man sie auch zu Ende bringen. Deshalb - und nicht um eine Wiedererkennung durch den Wachmann zu verhindern - hätte er ihm die Kehle durchgeschnitten. In Panik sei er erst geraten, als er mit den abgenommenen Schlüsseln das Professorenzimmer nicht aufbekam. Er habe sich aber an Krimiszenen erinnert, in denen Türen aufgeschossen wurden, und also in das Schloss geballert, jedoch auch dies ohne Erfolg. Danach habe er aufgegeben, sich in Sicherheit gebracht und sich die Geschichte von der geheimen Gruppe zurechtgelegt, für den Fall, dass die Polizei ihn befragen würde. Heute sehe er ein, dass das Ganze ein Wahnsinnsunternehmen gewesen sei und er viele unverzeihliche Fehler gemacht hätte, vor allem durch den »beknackten« Besuch bei dem Professor wenige Tage vor der Tat.
Schlecht geschlafen, betonte Kältlich, hätte er wegen der Tötung des Wachmannes aber nie. Auch bei der Planung seien moralische Bedenken nicht einmal ansatzweise vorhanden gewesen. Die Bedenken hätten sich auf ein mögliches Scheitern bezogen, nicht auf die Sache selbst. Er hätte sich als Elite empfunden und sich auch das Recht zugesprochen, sich so zu verhalten, wie er es getan hatte: »Zur Not muss man so etwas probieren«. Man könne von einem angehenden Offizier erwarten, dass er sich in Extremsituationen bewähre und losgelöst von moralischen Aspekten handle. Auch sein Vorbild, die Waffen-SS, hätte »das Kunststück fertig gebracht, soldatische Tugenden zu vertreten ohne Berücksichtigung moralischer Aspekte«. Auf meine Frage, ob er auch einen Soldaten überfallen und getötet hätte, wenn der die Schlüssel zum Professorenzimmer in Verwahrung gehabt hätte, erwiderte er empört, einen Kameraden hätte er nie angegriffen, damit hätte er sich selbst ad absurdum geführt. »Die Idee war, da schnapp ich mir einen dämlichen Zivilisten«. Er hätte so der Gefahr entgehen wollen, zur Truppe zurückversetzt zu werden. Außerdem habe er nicht »als Null dastehen wollen« bei seinem dritten Versuch, »diese verdammten Mathematikklausuren zu bestehen«.
Solche flapsigen Redeweisen zogen sich durch alle seine Antworten. Zwar sagte Kältlich mir, dass er sich nach der Tat manchmal schon Gedanken darüber gemacht hätte, ob es recht gewesen sei, einen Familienvater zu töten, aber das sei eine rein intellektuelle Überlegung gewesen. Ein schlechtes Gewissen hätte er deshalb nicht gehabt, allenfalls sei es so gewesen, als wenn er jemand im Suff totgefahren hätte. Das Gefühl, etwas verpfuscht zu haben, sei inzwischen aber auch abgeklungen, »eher tut man das als Jugendsünde ab, so als wenn man als Aussteiger nach Thailand gegangen wäre«.
Ich fragte Kältlich daraufhin, was ihn in der Zukunft, wenn er eines Tages freikäme, davon abhalten werde, wieder jemanden anzugreifen oder gar zu töten, wenn das seinen Vorhaben dienlich sein könne. Er sagte, er müsse »ins Kalkül ziehen«, dass er über keinerlei moralische Gefühle verfüge. Mit einem solchen Defekt müsse er eben leben. Auch der Knast trüge nicht dazu bei, die Achtung vor moralischen Werten zu erhöhen. Aber seine gute intellektuelle Ausstattung ermögliche es ihm, solche Defizite durch Vernunftüberlegungen zu kompensieren. Es sei so etwas wie »trial and error«, er sei eben auf die Nase gefallen und bezweifele infolgedessen, dass er so etwas noch einmal versuchen werde. Der Zahn, er sei der Größte, sei ihm gezogen worden. Früher sei er unbefangen ans Töten herangegangen, er hätte sich gesagt, »man macht es und Schluss«, es sei eine fast spielerische Vorstellung gewesen, fast wie ein Film, als Junge hätte er sich »alles Mögliche darunter vorgestellt«. »Durch den ganzen Schlamassel« habe er jetzt aber ein distanzierteres Verhältnis dazu. Es komme sogar vor, dass er an den Wachmann und seine Familie denke, Familienfeste seien ja auch für ihn immer sehr wichtig gewesen. Überhaupt vertrete er heute keine Extrempositionen mehr, er sei nun in der Lage, auch die andere Seite zu sehen und sich deren Meinungen anzuhören. So sehr habe er sich in dieser Hinsicht verändert, dass seine Eltern halb im Scherz gesagt hätten, er trüge nun einen Heiligenschein. Nein, er sehe sich heute nicht mehr als gefährdet an, eine solche »Dummheit« wie damals oder sonst irgendetwas Illegales zu begehen.
Obwohl ich zwei ganze Tage mit Kältlich und einen dritten mit seinen Eltern verbrachte, gelang es mir nicht, viel Sympathie für ihn zu empfinden. Das lag nicht nur daran,
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