Das Unglück der kleinen Giftmischerin
dass seine Werteskala Lichtjahre von der meinen entfernt blieb. Ausdrücke wie »Gefühlsscheiß« oder «dämliche Zivilisten« schienen mir zu bezeugen, dass sich seine Empfindungen, den intellektuellen Korrekturen zum Trotz, seit dem Tathergang nicht wesentlich gewandelt hatten. Wenn er seine moralischen Defekte auch nicht mehr offen verherrlichte, hatte er sie doch wie eine Art von Behinderung, für die man nichts kann, in seine Persönlichkeit integriert. Der alte Prichard’sche Begriff der »moral insanity« kam mir in den Sinn und es blieb mir nur zu hoffen, dass Kältlich tatsächlich durch Erfahrung etwas dazugelernt hatte. Aber hatte er das wirklich? Oder nutzte er nur seine überlegene Intelligenz, um die Einsicht in die eigene moralische Schwäche und ihre Kompensation durch den Verstand dem Gutachter als Beleg für seine heutige Ungefährlichkeit darzulegen? Und warum legte er nun, zehn Jahre nach der Tat, doch noch ein Geständnis ab? Hatten Mithäftlinge oder gar sein Anwalt ihn in dieser Richtung beraten und ihm gesagt, Lockerungen würden geständigen Tätern leichter gewährt?
Zugute halten konnte man ihm, dass er zum Tatzeitpunkt sicherlich emotional unreif gewesen war, seine eigene Referenz auf das Spielerische beim Töten war geradezu ein Musterbeispiel für den Versuch, nicht nur über die eigenen Größenfantasien, sondern auch über die Wirklichkeit unbeschränkte Macht zu gewinnen. Und an dieser gefühlsmäßigen Unreife schien sich noch nicht viel geändert zu haben.
So diagnostizierte ich eine weiterhin vorhandene, in erster Linie narzisstische Persönlichkeitsstörung. Dennoch empfahl ich, mit einem vorsichtigen Lockerungsprozess der Haftbedingungen zu beginnen. Eine psychotherapeutische Aufarbeitung der narzisstischen Persönlichkeitsdefizite außerhalb der JVA schien mir nicht aussichtslos zu sein, und dazu mussten Ausführungen durch Justizbeamte zum Therapeuten genehmigt werden. Im Übrigen glaubte ich Kältlich, dass er aus seiner Festnahme und seiner Verurteilung so viel gelernt hatte, dass es für ihn selbst besser war, auf illegale Handlungen auch dann zu verzichten, wenn sie ihm auf den ersten Blick einen großen Vorteil versprachen, denn wenn er sich in Zukunft korrekt verhielt, hatte er Aussicht auf Begnadigung und damit auf eine Entlassung in fünf bis sieben Jahren. So paradox es klingt: Bei Kältlich waren gerade sein Gefühlsdefizit und seine Neigung zu kühler Abwägung seines Vorteils und seiner Chancen ein prognostisch günstiger Indikator. Die einzige Gefahr - und ich verheimlichte sie in meinem Gutachten nicht - sah ich darin, dass er während eines Ausganges eben doch ein kalkuliertes Risiko auf sich nehmen, fliehen, ins Ausland entkommen und sich als Söldner in Afrika verdingen könnte.,
Aber beim Schreiben dieser Kurzgeschichte, fast zehn Jahre später, zu einem Zeitpunkt, da Kältlich wohl schon lange wieder auf freiem Fuß ist, kommen mir plötzlich noch ganz andere Bedenken: Vielleicht haben seine Elitevorstellungen, seine soldatische Härte, seine angebliche Amoral nur dazu gedient, darunter verborgene sadistische Tötungsimpulse und -motivationen für andere, möglicherweise auch für ihn selbst unsichtbar zu machen. Bringt man seine sadistischen Onanievorlagen mit seinen Äußerungen über spielerisches Töten in einen Zusammenhang, mit seiner Verehrung für die SS, mit seinem Handbuch für den Messerkampf und dies alles mit der tatsächlichen Ermordung des Wachmannes, so gewinnt die von ihm selbst angegebene, ziemlich magere Motivation für dessen Tötung einen viel stärkeren, wenngleich ihm selbst wohl noch unbewussten Unterbau. Aus einer solchen Sicht wären seine amoralischen Rechtfertigungskonstruktionen und Rechtsvorstellungen ein - wenn auch sehr brüchiger - Schutz vor einer Überschwemmung durch offen sadistische Antriebe zu Folter und Mord. Für eine solche Anmutung - mehr ist es nicht, noch nicht einmal eine Vermutung - habe ich außer den genannten Bruchstücken keinerlei Belege, und ich kann nur hoffen, dass ich mich mit ihr auf einem völlig falschen Weg befinde. Aber mit dieser Unsicherheit werde ich wohl dauerhaft leben müssen.
Der Machtrausch des Waldgängers
Im Spätsommer 1989 fiel einem zwölfjährigen Jungen ein an einer Waldlichtung geparkter schnittiger Sportwagen mit einem Großstadtkennzeichen auf. Da dort sonst nie Autos standen und er zu Hause gehört hatte, dass in der Gegend schon einmal eine Frau vergewaltigt worden
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