Das Unglück der kleinen Giftmischerin
er, eine Frau, mit der er mitgefahren sei, hätte ihn wegen sexueller Belästigung angezeigt, dies sei vom Gericht aber »widerlegt« worden und er wäre »nur« wegen Erpressung zu sechs Monaten verurteilt worden. Dies war offenbar kein Einzelfall. Ein anderes Mal hätte er einer Frau, die ihm Geld schuldete, gedroht, kompromittierende Aktbilder von ihr zu versenden, wenn sie nicht zahle. Da die Akten über diese Vorfälle nicht aufzufinden waren, ließ sich nicht feststellen, was damals wirklich geschehen war.
Ein Jahr bevor Naribor als Fluchthelfer festgenommen wurde, war er mit einer jungen Frau befreundet gewesen, die von ihm ein Kind bekam. Sie hätte ihn immer wieder betrogen, er ihr immer wieder verziehen, bis sie schließlich, unter Zurücklassung des Kindes, abgehauen sei. Er musste dann allerdings einräumen, dass er gegen Ende ihrer Beziehung ebenfalls fremdgegangen war. Erst danach hätte er mit seinen DDR-Reisen begonnen, zunächst nur um seine Eltern zu besuchen und sich mit ihnen auszusöhnen.
Der Anklageschrift und dem Urteil von 1973 zufolge, die mir wie das psychiatrische Gutachten Vorlagen, war Naribor vom Februar bis Oktober 1972 116-mal mit Tagesgenehmigungen nach Ostberlin eingereist, hatte dort junge Mädchen und Frauen kennen gelernt und sie zu überreden versucht, die DDR illegal zu verlassen. Er soll einigen von ihnen angeboten haben, ihnen gefälschte Pässe zu beschaffen, mit denen sie über Bulgarien oder die ÈSSR ausreisen könnten, anderen, sie auf dem Transitweg direkt in die BRD zu schleusen. Mit den meisten der jungen Frauen ging er intime Verhältnisse ein. Von manchen der Frauen soll er sich auch Geld geliehen haben, ohne es zurückzugeben. Fast alle lehnten seine Schleuserangebote schließlich ab, bei einigen erledigte sich die Sache, wenn Naribor sich einer anderen Partnerin zuwandte. Liest man Anklageschrift und Urteil genau, so entsteht der Eindruck, er habe in Ostberlin eine »Idealfrau« gesucht, um sie in den Westen mitnehmen zu können. Seiner damaligen Gutachterin sagte er, die Mädchen in der DDR seien weniger kalt und egoistisch und würden deshalb bessere Ehefrauen und Mütter abgeben. Schließlich war es eine Sechzehnjährige, die er mit Hilfe eines Bekannten, der von ihm dafür einen Schuldschein über 6500 DM erhielt, über die Grenze in die BRD bringen lassen wollte. Das Mädchen wurde aber bei der Kontrolle entdeckt und gab bei der Vernehmung seinen Namen preis. Sie musste ihn dann anrufen und behaupten, sie sei schon in Helmstedt in Sicherheit. Das führte dazu, dass er selbst bei seinem nächsten Grenzübergang festgenommen wurde.
Verurteilt wurde Naribor schließlich wegen »staatsfeindlichen Menschenhandels« - so wurde der missglückte Schleusungsversuch juristisch eingeordnet -, wegen Anstiftung zu illegalem Grenzübertritt und wegen unbefugtem Eindringen in die DDR (er hatte mehrfach bei seinen Besuchen die Berliner Stadtgrenze überschritten). Er erhielt, unter Anrechnung der einjährigen Untersuchungshaft, eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten, von denen er vier Jahre absaß, die meiste Zeit in Bautzen, dann schob man ihn in die BRD ab.
Erstaunlich ist, dass Naribor vom schwerwiegendsten Anklagepunkt des »landesverräterischen Treuebruches« freigesprochen wurde. In der Anklageschrift war ihm noch vorgeworfen worden, den westlichen Geheimdiensten sehr detaillierte Angaben über sowjetische und NVA-Kasernengelände und Grenzschutzanlagen gemacht sowie auf von ihnen vorgelegten Fotos Stasimitarbeiter, Partei-, Wirtschafts- und Staatsfunktionäre identifiziert und genau beschrieben zu haben. Im Urteil wird demgegenüber festgehalten, dass »die Aussagen des Angeklagten vor diesen Geheimdienststellen nicht mehr zu bestimmen« seien, weshalb dieser Anklagepunkt wie auch der Vorwurf der Anstiftung zum Grenzübertritt fallen gelassen wurde. Die Annahme liegt nahe, dass die Stasi ihre Beweisunterlagen nicht in einer öffentlichen Hauptverhandlung gegen einen BRD-Bürger vorlegen wollte, der zudem noch von dem renommierten, auf Fluchthelferprozesse spezialisierten Anwalt Dr. Vogel verteidigt wurde. Naribor behauptete bei seinem ersten Gespräch mit mir, als ich die DDR-Unterlagen noch nicht kannte, dass die meisten Anklagepunkte auf Geschichten beruhen würden, die er sich ausgedacht hätte, um dem Vernehmungsdruck zu entgehen. Die Genauigkeit der in der Anklageschrift gegebenen Informationen, einschließlich der Namen und Adressen vieler
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