Das Unglück der kleinen Giftmischerin
inzwischen bei seiner hundertdreißigsten Psychotherapiestunde bei häufig wechselnden, meist weiblichen Therapeuten angekommen, in einem höchst lockeren, nach seinen jeweiligen Wünschen ausgerichteten Setting. Die Kosten dafür hatte die Bundesregierung übernommen, denn Naribor galt als politisch Verfolgter.
Wir sprachen zuerst über seine Kindheit und Jugend in der DDR.
Der Vater hätte getrunken, die Mutter ihn häufig geschlagen und ihm keinerlei Freiräume gelassen, er hätte bei der elterlichen Haustierhaltung mithelfen müssen und sei zudem zu Bauern in der Nachbarschaft zum Arbeiten geschickt worden, so dass er die Schulaufgaben vernachlässigen musste. Die daraus erwachsenen schlechten Noten hätten dann wieder zu Schlägen Anlass gegeben. Trotzdem hätten die Lehrer ihn zum Abitur führen wollen, der Vater hätte dies aber verhindert. Die Bevorzugung seiner jüngeren Schwestern wurmte ihn offenbar noch heute: Die Schwestern bekamen alles, Süßigkeiten, Spielzeug und elterliche Zärtlichkeit, er hingegen nichts. Die Mutter hätte ihn, wenn er in ihre Arme wollte, sogar weggestoßen. Mit acht Jahren hätte sie ihn aber, wenn der Vater weg war, in ihr Bett geholt zum »Kuscheln«, sie hätte ihn am Bauch gestreichelt und er hätte sie am Geschlechtsteil anfassen müssen. Die Mutter hätte ihm verboten, darüber zu sprechen; wenn er das täte, käme er in ein Erziehungsheim. Diese Drohung wirkte bis zum fünfzehnten Lebensjahr, drei- bis viermal in der Woche hätte die Mutter ihn zu sich gerufen, bis er anfing, sich für das andere Geschlecht zu interessieren. Danach seien seine nächstjüngere Schwester und später eine Cousine seine »Übungspartnerinnen« geworden, das habe ihm, anders als mit der Mutter, richtig Spaß gemacht. Naribor erzählte mir das in einer Mischung aus wehleidiger Selbstbemitleidung und genüsslicher Prahlerei: Indem er darüber redete, schien er alles noch einmal auszukosten, so dass für mich unklar blieb, was an diesen Geschichten der Wirklichkeit entsprach und was dazufantasiert war. Die Strenge und Lieblosigkeit des Vaters tauchte zwar schon in der Anamnese eines DDR-Gutachtens aus dem Jahre 1973 auf, von den inzestuösen Zärtlichkeiten der Mutter war da jedoch noch nicht die Rede, und auch nicht vom pubertären Geschwister- und Cousinensex. Aber das konnte natürlich auch daran liegen, dass es Naribor damals noch zu peinlich gewesen war, darüber zu reden. Inzwischen waren seine Erinnerungen durch die vielen Psychotherapiestunden wiederbelebt, oder aber, im Erwartungshorizont der Therapeutinnen, als schuldentlastende »false memory« auch erst entstanden. Diese Unsicherheit - man begegnet ihr bei Patienten, die eine oder gar mehrere Psychotherapien hinter sich haben, häufig - konnte ich vorerst nur registrieren. In einer psychoanalytisch inspirierten Therapie, deren Szene das Unbewusste ist, käme es zwar nicht so sehr darauf an, ob eine ins Bewusstsein gespülte Vorstellung das Vergangene realitätsgerecht wieder-
gibt oder aber nur eine für den neurotischen Konflikt relevante Fantasie widerspiegelt, bei einer forensischen Anamnese ist das jedoch anders, da möchte man wissen, was wirklich gewesen ist. Und das war bei Naribor, bei dem das ursprüngliche Geschehen durch unzählige Reformulierungen bei richterlichen und gutachterlichen Befragungen und bei psychotherapeutischen Sitzungen überdeckt war, kaum mehr herauszufinden.
Schwierig war es auch, sich ein Bild von Naribors Frauenbeziehungen vor seinen Sexualdelikten zu machen. Nach seinen Erzählungen war es ihm meist rasch gelungen, Frauen kennen zu lernen und mit ihnen zu schlafen, aber schon nach kurzer Zeit wurde er von ihnen regelmäßig verlassen. Entweder kehrten sie zu einem früheren Freund zurück oder sie suchten sich einen neuen. Er selbst war dementsprechend verbittert und enttäuscht, wenn er von ihnen im Stich gelassen wurde. Warum er von den Frauen immer wieder verlassen wurde, wusste er nicht zu sagen, diese Frage hatte er sich niemals gestellt.
Es war auch eine solche Zufallsbekanntschaft gewesen, die ihn, als er neunzehn war, überredet hatte, mit ihr aus der DDR zu fliehen. Im Westen angekommen sei er diesem Mädchen aber nicht mehr gut genug gewesen; sie sei mit ihrer Familie, die sie abholte, einfach verschwunden.
Weder die Akten noch die Angaben Naribors ließen den genauen Zeitpunkt des ersten Sexualdeliktes erkennen. Als ich ihn über eine Verurteilung aus dem Jahre 1978 befragte, sagte
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