Das Unglück der kleinen Giftmischerin
noch nach vielen Jahren der Unauffälligkeit wieder etwas Schreckliches passieren konnte.
Und was habe ich selbst empfunden, als ich mit Anton sprach? Mitgefühlt habe ich zuerst natürlich mit Nora, seinem Opfer. Aber sie bekam ich ja nicht zu Gesicht. Erst im Prozess erstand durch die Aussagen ihrer Eltern und Freunde das Bild eines hübschen, lebensfrohen, optimistischen, vielleicht etwas zu vertrauensseligen Mädchens, das von allen, die es kannten, gemocht wurde. Mit Anton war ich hingegen mehrere Tage in intensive Gespräche vertieft, und so war meine Aufmerksamkeit eher ihm zugewandt. Daraus ergab sich eine strukturelle, gefühlsverzerrende Schieflage, der ich wie jeder andere Gutachter unterworfen war. Anton konnte, so wie er es Nora, seinem Opfer, zwischen Fesselung und Tötung gesagt hatte, wohl niemand mehr helfen. Mit dem, was ihm nun bevorstand, aber auch mit seiner Unbeholfenheit, mit seiner Ausgeliefertheit an seine plötzlich hervorbrechenden Triebgewalten hatte ich Mitleid. Gerne hätte ich ihm einen kompetenteren, beschützenderen Vater gewünscht, der ihm geholfen hätte, besser mit seinem »verborgenen, schuldigen Flussgott des Bluts« und »seinem furchtbaren Dreizack« umzugehen. Auch Anton erschien mir als Opfer, das ganze Geschehen hatte etwas von einer tragischen, atridischen Unerbittlichkeit, als müsse der Täter auf ein bestimmtes Stichwort hin die ganze schreckliche Szene nachspielen, weil sie so in seinem von seinen Genen und seinen kindlichen Erfahrungen verfassten Drehbuch steht. Aber da lasse ich mich wohl zu sehr von einer modischen Inszenierung des Trieb-, ja des Lebensschicksals mitreißen. Vielleicht ist es richtig, dass man ab einem bestimmten Punkt die eigenen Repliken nicht mehr verändern kann, aber bis dahin kann man doch wohl durch eigenen Entschluss die Szene wechseln - und das hilft, auch wenn diese andere Szene gleichfalls schon vorformuliert ist.
Der Liebeshochstapler
Auch Hubert Naribor, geborener Schulze, den ich innerhalb von fünfzehn Jahren dreimal begutachtete, hatte Frauen zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Aber bei ihm fehlte die Unerbittlichkeit der Handlungsabläufe, die Anton Krumser zu seinen Taten getrieben hatte, und er suchte auch nicht den Macht- und Freiheitsrausch, dem Friedhelm Luft bei seinen Überfällen wie ein Süchtiger verfallen war. Naribor hielt sich vielmehr schlicht für unwiderstehlich - und musste sich dies doch immer wieder beweisen.
Zum ersten Mal sah ich ihn 1987 als Freigänger einer JVA, in der er seit fünf Jahren eine achtjährige Freiheitsstrafe wegen acht Vergewaltigungen absaß, drei von ihnen in Tateinheit mit Freiheitsberaubung. Er hatte die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung beantragt und ich sollte zur Rückfallgefahr Stellung nehmen. Da er bereits unbegleiteten Ausgang hatte, konnte die Untersuchung in meinem Arbeitszimmer stattfinden. Kaum saß er mir gegenüber, so drängte er auch schon auf eine zügige Bearbeitung, und auch meine Sekretärin, der er einen Blumenstrauß schenkte, hatte er im Nu dazu gebracht, mich alle zwei Tage zu fragen, ob ich mit seiner Begutachtung nicht endlich fertig sei. Naribor stammte aus einem kleinen Harzstädtchen, der Vater war Bauingenieur, die Mutter technische Zeichnerin. Er war siebenundreißig Jahre alt, ohne abgeschlossene Berufsausbildung, und hatte noch zwei um vier bzw. vierzehn Jahre jüngere Schwestern. 1968 war er aus der DDR geflohen und hatte sich nach mehreren Zwischenstationen in Westberlin niedergelassen. Verurteilungen wegen Betrug, Diebstahl, Unterschlagung, Urkundenfälschung und Erpressung trugen ihm dort geringfügige Freiheitsstrafen ein, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. 1972 wurde er bei einem Ostberlin-Besuch wegen Fluchthilfe festgenommen und kam für einige Jahre nach Bautzen, danach wurde er in die BRD abgeschoben. Zwei Jahre später kam es, nun wieder in Westberlin, zur Verurteilung wegen der Sexualdelikte. Eine in der Haft auf Korrespondenzbasis eingegangene Ehe war nie vollzogen und nach einem Jahr wieder geschieden worden, aber er war dabei seinen Familiennamen Schulze losgeworden und hieß seither Naribor.
Als ich Naribor traf, hatte er eine angeblich feste Beziehung zu einer 22-jährigen Altenpflegeschülerin, die er in der JVA als seine Verlobte, mir gegenüber als seine Freundin bezeichnete. Gleichzeitig gab es noch eine etwas ältere Frau, die sich um ihn kümmerte und bereit war, ihn bei Haftentlassung bei sich aufzunehmen. Und er war
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