Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Frauen, mit denen Naribor intime Beziehungen eingegangen war, lässt sich mit dieser Version jedoch nicht vereinbaren. Wahrscheinlicher ist, dass Naribor 1968 den westlichen Geheimdiensten wirklich alles erzählt hat, was er wusste, und versucht hat, dies fünf Jahre später vor der Stasi zu rekonstruieren. Wie dem auch gewesen sein mag: Der teilweise Freispruch belegt jedenfalls, dass das Urteil gegen Naribor bemüht war, zumindest den Anschein zu erwecken, in ihm würden die rechtsstaatlichen Normen der DDR gewahrt.
Das gilt auch für Naribors psychiatrische Begutachtung in Waldheim. Sie war veranlasst worden, weil er sich in der Untersuchungshaft »über die Regeln der bestehenden Hausordnung hinwegzusetzen versuchte«, arrogant und provozierend auftrat und schließlich »im Verwahrraum auf allen vieren herumlief und bellte«. Die psychiatrische Gutachterin erhob eine knappe, aber doch die wesentlichen Lebensstadien Naribors berücksichtigende Anamnese, beschrieb sein zunächst forderndes, aggressives Verhalten, das später nach »Einzelunterbringung« einer weitgehenden Angepasstheit wich, wenn Naribor auch immer noch versuchte sich aufzuspielen und sich auch nicht davon abbringen ließ, zu weiblichen Mitpatientinnen Kassiberkontakte zu suchen. Charakterisiert wird er als geltungssüchtiger, egozentrischer und teilweise querulatorisch reagierender Mensch, dies aber im Rahmen einer akzentuierten Persönlichkeit, nicht einer krankheitswertigen Persönlichkeitsstörung. Nachdem die Gutachterin auch eine schizophrene Geisteskrankheit, ein manisch depressives Leiden und eine hirnorganische Beeinträchtigung ausschließen konnte, erklärte sie ihn für strafrechtlich voll verantwortlich. Ich selbst wäre damals wohl zum gleichen Ergebnis gekommen. Der moralisierende, manchmal etwas abschätzige Ton des Gutachtens, der einen heute unangenehm berührt, war keine DDR-Besonderheit. Man fand ihn zu jener Zeit auch in 90 % der psychiatrischen Gutachten Westdeutschlands.
Ich erzähle diese Fluchthelfergeschichte hier nicht nur deshalb so ausführlich, weil ein westdeutscher Sachverständiger nur selten Gelegenheit hat, DDR-Urteile und -Gutachten mit den eigenen juristischen bzw. psychiatrischen Maßstäben zu vergleichen. Durch diese folgenreiche Episode im Leben Naribors - die 116 Tagesbesuche in Ostberlin in etwas mehr als einem halben Jahr und die rasch wechselnden intimen Verhältnisse, die er dort einging -, wird auch noch einmal mehr belegt, wie sehr sein Leben auf Kontaktaufnahmen zu jungen Frauen ausgerichtet war. Das war schon in seinen ersten Jugendjahren so - sein Entschluss, die DDR zu verlassen, war ja auch durch einen solchen flüchtigen Kontakt motiviert -, und sein übermächtiges Kontaktbedürfnis setzte sich - wie noch zu zeigen sein wird - in seinen sexuellen Straftaten fort. Naribor agierte zu der Zeit wie ein Liebeshochstapler: Er setzte seinen beträchtlichen Charme ein und machte viele Versprechungen, um die Zuneigung von jungen Frauen zu gewinnen und um mit ihnen zu schlafen. Und er hatte in Ostberlin damals, mit seinen 24 Jahren und seinem guten Aussehen, viel Erfolg. Trotzdem bin ich mir nicht ganz sicher darin, was er eigentlich gesucht hat: angenehmen, zärtlichen Sex, unverbindliche Liebesbeziehungen, vielleicht auch ein sehr junges, noch unreifes Mädchen, um seine Westberliner Häuslichkeit damit auszustatten? Oder war dies alles nur Tarnung und er agierte als Angehöriger einer Organisation, die seine Fähigkeiten und Neigungen benutzte, um möglichst viele junge Menschen zum Verlassen der DDR zu bewegen?
In Bautzen war Naribor nach seinen eigenen Schilderungen strengen Haftbedingungen unterworfen: tagsüber Arbeiten in einer Werkstatt, abends Einzelhaft, einmal wöchentlich Fernsehen, einmal monatlich Kino. Von Folter oder Schlägen hat er mir nichts berichtet, wohl aber in seiner Haftentschädigungssache und bei späteren Psychotherapien. Daran kamen jedoch Zweifel auf, so dass die Staatsanwaltschaft Berlin - allerdings erst Jahre später - ein Verfahren wegen falscher eidesstattlicher Versicherung einleitete. Gegen Ende der Bautzener Haftzeit verfiel er in einen depressiven Zustand mit Essensverweigerung, woraufhin die Haftbedingungen erleichtert wurden. Naribor berichtete auch, dass er mehrfach Besuch aus der ständigen Vertretung der BRD in Ostberlin bekam. Im Bus, der ihn schließlich mit den anderen Haftentlassenen nach Westdeutschland brachte, bandelte er sofort wieder mit einer auch
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