Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Nachdem Anton Nora geschlagen, gefesselt und ihr wahrscheinlich auch schon ein erstes Mal Gewalt angetan hatte, hatte er innegehalten und war »pinkeln« gegangen. Da er selbst sagte, er hätte Nora getötet, um sie daran zu hindern, zur Polizei zu gehen, sprach manches dafür, dass er sich das während seiner »Pinkelpause« klar gemacht hatte. Traf dies zu, so war er zwar nicht für die Vergewaltigung, aber doch für den Mord strafrechtlich voll verantwortlich. Aber ich konnte auch nicht ausschließen, dass Anton mir die Unwahrheit sagte: weil es für ihn leichter war, sich einen Verdeckungsmord als einen Lustmord einzugestehen. Waren Geschlechtsakt und Tötung gleichzeitig abgelaufen und bezog Anton seinen Lustgewinn vor allem aus dem Quälen und Töten selbst, wofür Alice’ Eindruck bei ihrer Vergewaltigung sprach, dann lag dem ganzen Vorgang möglicherweise doch eine sadistische Impulshandlung zugrunde, die mit einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit einhergegangen war. Aus den mir zur Verfügung stehenden Informationen konnte ich allerdings nicht mit Gewissheit schließen, dass es wirklich so gewesen war. Die größere Wahrscheinlichkeit sprach zwar für eine solche Impulshandlung im Rahmen einer sadistischen Devianz, aber die letzte Entscheidung darüber, ob Anton über sein Tötungsmotiv tatsächlich die Kammer, mich und vielleicht sogar sich selbst belog, musste ich dem Gericht überlassen. Wenn das Gericht mir folgte und eine verminderte Schuldfähigkeit bejahte, waren die Voraussetzungen zu einer langfristigen Unterbringung auf einer forensischen Abteilung gegeben, verneinte es sie, so griffen die psychiatrischen Kriterien für eine Sicherheitsverwahrung.
Die meisten Gerichte, mit denen ich zusammenarbeite, sind es gewohnt, Entscheidungen zwischen verschiedenen Tatbestandsvarianten zu treffen, aus denen sich unterschiedliche forensische Folgerungen ergeben, die der Gutachter für sie natürlich herauszuarbeiten hat. Sie verlangen es diesem aber nicht ab, an ihrer Stelle tätig zu werden. Das kleinstädtische Schwurgericht, vor dem Anton stand, war damit jedoch offenbar überfordert. So wurde aus diesem Fall mein einziges Schuldfähigkeitsgutachten in einer jahrzehntelangen forensischen Tätigkeit, das vom Gericht nicht akzeptiert wurde. Es bestellte einen nicht promovierten Assistenzarzt eines Landeskrankenhauses als Zweitgutachter, der Anton eine völlige Schuldunfähigkeit attestierte und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vorschlug. Natürlich war ich wütend, als ich das erfuhr, vor allem weil weder die Kammer noch der Staatsanwalt noch der Verteidiger nach dem Vortrag meiner Ergebnisse irgendwelche Zweifel an meinem Gutachten geäußert hatten. Am Ende des Gerichtstages schienen alle davon überzeugt, dass am nächsten Tag, auch aufgrund meines Gutachtens, ein Urteil verkündet werden würde. Zufällig erfuhr ich, dass der Verteidiger über Nacht auf den Einfall gekommen war, eine Wiederaufnahme der schon geschlossenen Beweisaufnahme zu verlangen, mit der Begründung, ein Gutachter müsse sich zwischen zwei aufgeführten Varianten entscheiden können. Es ging ihm darum, dass sein Mandant auf jeden Fall in den Maßregelvollzug und keinesfalls ins Gefängnis kam, denn er fürchtete wohl, das Gericht werde die Variante des Verdeckungsmordes wählen und nicht nur eine lebenslängliche Haftstrafe aussprechen, sondern auch eine »besondere Schwere der Schuld« feststellen, was eine Begnadigung erst nach zwanzig Jahren ermöglicht hätte, und auch das erst nach Prüfung der Rückfallgefahr.
Nachdem ich diese ungewohnte Demütigung hinuntergeschluckt hatte, sagte ich mir, die forensische Psychiatrie sei für Anton vielleicht wirklich eine bessere Lösung als das Gefängnis. Immerhin ließe sich dort ein Therapieversuch machen. Ihn für voll schuldunfähig zu erklären war dazu aber nicht nötig und entbehrte jeder Begründung. Es nahm Anton zudem die Möglichkeit, sich mit seiner Tat und ihren psychischen Voraussetzungen auseinander zu setzen und irgendwann so etwas wie Reue zu empfinden. Ich fürchtete sogar, dass ein solcher »Jagdschein«, wie die Schuldunfähigkeit im Volksmund heißt, noch die letzten Hemmungen vor einer Wiederholungstat niederreißen könnte: Auch in den forensischen Psychiatrien gibt es ja weibliches Personal. Sorge hatte ich auch, weil Anton nach einer neunjährigen Pause rückfällig geworden war und man somit befürchten musste, dass auch
Weitere Kostenlose Bücher