Das Unglück der kleinen Giftmischerin
brachte, uns im Zimmer allein ließ, in einem leicht frotzelnden Tonfall, ich solle mir keine Sorgen machen, ich hätte ihm nichts getan und so werde er auch mir nichts tun. Außerdem hätte sein Anwalt mich ihm als bestdenkbaren Gutachter empfohlen.
Großmann erzählte mir seine Lebensgeschichte in einem deutschenglischen Kauderwelsch. Seine ersten sieben oder acht Lebensjahre hätte er in einem Waisenhaus verbracht, ohne zu wissen, wer sein Vater und wer seine Mutter war. Im Waisenhaus sei es brutal und lieblos zugegangen, es hätte eine militärische Zucht und Ordnung geherrscht, auch körperliche Züchtigungen seien keine Seltenheit gewesen. Als jüngster Pensionär hätte er vor den anderen, die alle stärker waren als er, ständig Angst gehabt, besonders vor einem dreizehn- oder vierzehnjährigen Jungen, der ihm einmal die Hosen runtergezogen und ihn berührt hätte, ja er habe sogar gefürchtet, der könne ihn umbringen. Nur die Köchin hätte freundlich mit ihm geredet und ihn auch manchmal getröstet, aber in den Arm genommen hätte auch sie ihn nicht. Freunde hätte er im Waisenhaus nicht gehabt. Wenn die anderen zur Schule gingen, blieb er als der Jüngste allein im Haus zurück, seinen Träumereien überlassen. Im letzten Jahr, als auch er schon zur Schule ging, sei er gehänselt und geschlagen worden. Da hätte ihn ein vierzehnjähriges Mädchen, mit dem er den gleichen Schulweg hatte, verteidigt. Aber näher gekommen sei er auch ihr nicht, dazu war der Altersunterschied zu groß. Ständig hätte er das Gefühl gehabt, nicht am richtigen Ort zu sein, und nur gehofft, dass irgendwann irgendjemand kommen und ihn dort rausholen würde. Öfter wäre er nachts über die Umzäunung geklettert und hätte sich im angrenzenden Wald versteckt, bis ihn die Erzieher gefunden und zurückgebracht hätten.
Durch Großmann bekam ich erstmals anschaulich vor Augen geführt, wie einem kleinen Kind zumute ist, das seine Eltern und seine Herkunft nicht kennt und im kasernierten Umfeld eines Internates heranwachsen muss. Schutzlos den Hänseleien und dem Zugriff der Stärkeren ausgesetzt, ohne sichernde Rückzugsräume, blieb ihm nur die Flucht in illusionäre Erlösungsträumereien. Bei Großmann schienen sie sogar in Erfüllung zu gehen. Mit sieben Jahren bekam er zum ersten Mal einen Brief von seiner Mutter. Sie schrieb ihm aus Kanada, wo sie seit mehreren Jahren verheiratet war, und versprach, ihn bald dorthin nachzuholen. Der Junge sah in seinen Tagträumen eine schlossartige Villa in einem riesigen Park vor sich, luxuriöse Wagen, eine liebevoll zärtliche Mutter und einen mächtigen, gütigen Vater, der alle Unbill von ihm fern hielt.
Ein paar Monate später wurde er tatsächlich nach Hamburg gebracht und dem Kapitän der »Queen Mary« übergeben. Doch die Mutter stand nicht, wie in seinen Träumen, am Hafen, um ihn in der neuen Welt willkommen zu heißen. Ein Schneesturm hatte die Straßen unpassierbar gemacht hatte. Zwei Tage musste er in einem Polizeikommissariat auf besseres Wetter warten und wurde dann in einen Zug gesetzt. Erst an der kleinen Eisenbahnstation, wo ihn der Schaffner aussteigen ließ, nahm ihn schließlich seine Mutter in Empfang. Ihre ersten Worte seien Vorwürfe gewesen: weil er sie unter den auf dem Bahnsteig wartenden Frauen nicht gleich erkannt hatte. Dabei war er zwei Jahre alt gewesen, als sie zum letzten Mal im Waisenhaus gewesen war, und hatte natürlich keinerlei Erinnerung mehr daran. Auch war sie ärmlich angezogen und ähnelte nicht im Geringsten der Schlossherrin, von der er geträumt hatte. Als er sich daraufhin scheute, sie zu umarmen, sagte sie: »Das ist nicht mein Junge, das ist jemand anderes.«
In einem klapprigen, halb verrosteten Auto fuhren sie zu dem Haus, das sie jetzt zusammen bewohnen sollten: eine baufällige Holzhütte, ohne Bad, ohne fließendes Wasser, mit einem Toilettenhäuschen draußen nebenan. Er hatte ein Zimmer mit einem um zwei Jahre jüngeren Bruder und einer vierjährigen Schwester zu teilen, ein zweites ganz kleines Mädchen, noch ein Baby, schlief bei den Eltern.
Der Stiefvater war Bauarbeiter, hatte aber nicht immer Arbeit, die Mutter trank, und wenn nicht genug Geld zum Essen da war, wurden die Kinder dazu angehalten, im Laden etwas zu klauen. Das waren Bernwarts erste Delikte, bei denen er aber nicht erwischt wurde. Zwischen den Eltern bestand eine strikte Arbeitsteilung: Der Vater war für Arbeit und Geldverdienen zuständig, die Mutter für den
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