Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
hatte sie jedoch nicht an seine Reaktion dabei gedacht.
„Du warst auf den Straßen?“, rief er fassungslos. „Warum, in aller Welt? Bist du lebensmüde? Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, welche Leute sich da unten aufhalten?“
„Aber Vater, der Junge …“
Mit einem abfälligen Winken wurde der als unwichtig abgetan.
„Das ist leider kein seltener Zustand dort draußen. Aber genau das meine ich doch! Sei bloß froh, dass du dich nicht anstecken kannst.“
Er hatte davon gewusst? Niove wollte nicht glauben, dass an dem Schicksal dieses Jungen nichts Ungewöhnliches sein sollte. Wie konnte so etwas überhaupt geschehen? „Ich dachte, es wäre verboten, natürliche Kinder zu zeugen?“, entfuhr es ihr.
Einen Augenblick lang huschte ein düsterer Ausdruck über das Gesicht ihres Vaters, doch er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. Mit trauriger Miene schüttelte er den Kopf, als er antwortete.
„Nein, verboten ist es nicht, niemand könnte so ein Verbot durchsetzen. Es ist nur nicht ratsam. Natürliche Kinder sind anfällig für so Vieles, und ihre Chancen im Leben sind schlecht. Sie sind nicht für eine Aufgabe spezialisiert, niemand weiß, wie lange sie durchhalten. Deswegen würde niemand einen natürlichen Menschen ausbilden oder ihm eine verantwortungsvolle Arbeit anvertrauen. Außerdem tragen die meisten von ihnen nicht einmal einen Chip. Ohne Identifikation bleiben ihnen nicht viele Möglichkeiten, ihre Existenz zu sichern.“
„Und deshalb lässt man sie auf den Straßen sterben?“ Kaltes Entsetzen durchfuhr Niove bei diesen Gedanken. „Das ist doch unmenschlich! Wer sagt denn, dass natürliche Menschen keine Chancen haben? Sie werden doch nicht alle krank sein! Du bist schließlich auch kein Klon.“
Der alte Mann überging den bissigen Ton seiner Tochter.
„Nein, aber ich bin auch nicht natürlich gezeugt worden. Deine Mutter war es.“
Der Schmerz in seiner Stimme hielt Niove davon ab, ihn darauf hinzuweisen, dass ihre Mutter ein Genmix gewesen war – seine Frau, die Mutter von Erran und Zarail, war schon lange vor ihrer Zeugung verstorben. Sanft, aber hartnäckig versuchte sie, ihn auf ihr eigentliches Thema zurückzuführen.
„Vater, gibt es denn keine Mittel, um die Krankheiten zu bekämpfen?“
Er blinzelte einige Male, als hätte er Mühe, sie richtig erkennen zu können. Dann lächelte er müde.
„Viele kann man besiegen, aber ebenso viele nicht. Deshalb war die Immunität eine der ersten Verbesserungen, die an den neuen Generationen durchgeführt wurden. Ohne Träger sollten die Krankheiten eigentlich aussterben – aber solange Menschen natürlich gezeugt werden, wird es Träger geben.“
Niove kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe. Es musste einen anderen Weg geben, als Menschen mit Kiemen zu züchten und Kinder zwischen Abfall verhungern zu lassen.
Nach einer Weile meinte sie: „Ich bin sicher, ich könnte eine Lösung finden.“
Ihr Vater hatte den Faden verloren. „Eine Lösung wofür?“
„Um die Krankheiten auszulöschen. Ich bin sicher, es gibt eine Möglichkeit.“
„Wozu willst du das tun? Es wird bald keine natürlichen Menschen mehr geben, und alle anderen sind nicht davon bedroht. Du solltest lieber dem N4 helfen, die Klonproduktion zu vereinfachen, damit sie allen Menschen zugänglich gemacht wird. Auch den ärmeren Schichten.“
Mit Schaudern dachte Niove an Zarails Arbeit und schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich glaube nicht, dass ich das tun sollte.“ Mit einem bittenden Blick fügte sie hinzu: „Vater, kannst du mir Unterlagen besorgen? Medizinisches Material, Anatomie, Bakteriologie?“
Obwohl er den Kopf schüttelte, war sein Seufzen eindeutig. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, die trotz seiner Optimierung allmählich begann, sein Alter zu zeigen.
Den Eignungstest verweigerte Niove. Stattdessen vergrub sie sich in digitalisierter Fachliteratur, von Leonardo da Vinci bis hin zu aktuellen Forschungsthemen. Allerdings kamen ihr viele der Texte abstrakt und fremd vor, vor allem jene, die sich mit der Fortpflanzung oder Krankheitssymptomen befassten. Ein Kind, das im Inneren eines Menschen heranwuchs, konnte sie sich ebenso wenig vorstellen wie das Gefühl, eine Erkältung zu haben. Beides klang gleichermaßen ekelerregend und faszinierend.
Als sie sämtliches zur Verfügung stehendes Material durchgearbeitet hatte und immer noch meinte, nicht genügend verstanden zu haben, beschloss sie, ein letztes Mal Zarail
Weitere Kostenlose Bücher