Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
Geschossen, deren Fenster mit Monitoren versehen waren, und den merkwürdigen Stockwerken darunter. Diese hatten keinen Zugang zu den Verbindungsbrücken, stattdessen gab es genügend Türen, um jedes Haus direkt von der Straße aus betreten zu können.
Einen Moment lang machte Niove sich Sorgen, wie sie bei diesem Wirrwarr wieder die richtige Tür finden sollte, um nach Hause zu kommen, dann jedoch siegte die Neugier. Erst wollte sie die Stadt erkunden. Über alles Weitere würde sie sich den Kopf zerbrechen, wenn es an der Zeit war.
Nachdem ihr die gesamte Stadt praktisch fremd war, war es eigentlich bedeutungslos, in welche Richtung sie sich zuerst wandte. Außerdem sahen sämtliche Straßen für sie absolut gleich aus. Also verließ sie sich auf Karills Richtungsanweisungen, die er wahlweise durch Fiepen, Hüpfen oder Schnabelpieksen kundtat. Nach kurzer Zeit war Niove davon derart malträtiert, dass sie ihn einfach vorausfliegen ließ.
Wie all die Menschen, die hier durchhasteten, sich in diesem Gewirr zurechtfinden konnten, war ihr ein Rätsel. Noch dazu schien niemandem der Gestank aufzufallen, der sich aus den Müllbergen an jeder Ecke erhob und einem den Atem rauben konnte, wenn man der Ursache zu nahe kam. Noryaks Unrat wuchs schneller, als er eingesammelt und recycelt werden konnte.
Karills Route folgend, gelangten sie bald in schmälere Gassen. Immer wieder stießen sie auf breite Eingänge, die unter die Straßen führten und Niove ein weiteres Mysterium enthüllten: die unterirdischen Stationen der Metro. Dort wimmelte es jedoch von Menschen, sodass sie erschrocken wieder an die Oberfläche flüchtete. Vorerst wollte sie sich erst einmal mit kleineren Menschenmengen anfreunden. Die Metro musste sie ein anderes Mal erkunden. Für den Anfang waren die verwinkelten Hintergassen Aufregung genug.
Karill schien ihre Meinung zu teilen, denn er ließ sich wieder auf ihrer Schulter nieder und gab sich mit dem Weg zufrieden, den sie selbst wählte. Niove lächelte und stupste den menschenscheuen Vogel ein wenig an, was Karill mit beleidigtem Aufplustern quittierte. Manchmal erstaunte es sie immer noch, wie groß das Ego dieses winzigen Tieres war.
Plötzlich ließ ein leises Rascheln sie alarmiert herumfahren. Hinter einem der Müllberge konnte sie eine Bewegung ausmachen, als würde jemand versuchen, sich dahinter zu verstecken. Karill zögerte keine Sekunde, sondern flog laut schimpfend davon. Niove formte mit ihren Lippen lautlos das Wort „Feigling“ in seine Richtung, ehe sie sich an die stinkende Masse heranschlich, aus der mittlerweile ein unterdrücktes Wimmern zu hören war.
Mit einem entschlossenen Schritt trat sie hinter den Haufen.
Aus einem schmutzigen Gesicht heraus starrten zwei trübe Augen sie angstvoll an. Die zusammengekrümmte Haltung machte es schwer, eine Körpergröße einzuschätzen, aber selbst Niove erkannte, was ihr da gegenübersaß.
Ein Kind , dachte sie, und der Gedanke hatte etwas Erschreckendes. Vor allem, da sie selbst kaum älter war.
Mehrere Sekunden lang musterten sie einander wortlos. Dann sprang der Junge unvermittelt auf, war mit einem Satz über dem Müllberg und rannte in erstaunlichem Tempo die Straße hinab.
Erschüttert sah Niove ihm nach, obwohl er längst hinter der nächsten Ecke verschwunden war.
Er war eindeutig krank gewesen, ganz zu schweigen von den unzähligen Blessuren und dem allgemein abgezehrten Eindruck. Und das konnte nur eines bedeuten: Das Kind war natürlichen Ursprungs.
Auf dem Heimweg verließ Niove sich blind auf Karills Führung. Der kleine Spatz flog ohne Zögern voraus, als hätte er sein gesamtes kurzes Leben lang nichts anderes getan, als sich in den eintönigen Straßenzügen zu orientieren. Niove war dankbar, denn abgesehen davon, dass sie selbst keine Ahnung gehabt hätte, wie sie zurück nach Hause kommen sollte, hatte ihre Entdeckung sie zu sehr aufgewühlt, als dass sie einen klaren Gedanken hätte fassen können.
Wie sie erwartet hatte, empfing ihr Vater sie mit einer Strafpredigt, kaum dass sie zu Hause aus dem Aufzug stieg. Ohne Erklärung und ohne Schutz zu verschwinden, ohne zu sagen, wohin sie ging oder wann sie wieder zurückkam – das war ein rebellisches Verhalten, wie er es von seinem Nesthäkchen nicht kannte.
Niove hatte jedoch keine Geduld für seine Fürsorge. Sie unterbrach seine säuberlich vorbereitete Rede, indem sie ihm aufgebracht von ihrer Begegnung in den Straßen berichtete. In ihrer Aufregung
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