Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
er als überaus ironisch empfand, waren sie doch andernfalls nur allzu bereit, diesen Vorgang selbst durchzuführen. Also war auch das keine Lösung.
Einen Patienten oder Arzt anzufallen und darauf zu spekulieren, dass sie in ihm eine Bedrohung sahen, die groß genug war, um eliminiert werden zu müssen? Vermutlich würde er nur in einem Isolationszimmer landen, und wieder wären die Schulden, die er Sianna damit aufhalsen würde, enorm.
Wie er es drehte und wandte, bevor er irgendeinen weiteren Schritt tun konnte, musste er erst einmal aus diesem verfluchten Spital heraus. Draußen konnte er sich noch immer entscheiden, ob er seinem Leben ein Ende bereiten musste. Er war eine Kämpfernatur, alleine würde er schon zurechtkommen. Und selbst wenn nicht, war es dann allein sein Kampf, den er verlor.
An den Wochenenden wurde die Belegschaft auf ein Minimum reduziert. Ärzte und ausgebildete Pfleger waren optimiert und daher teuer. Also wartete Haron ab, bis in der Nacht schließlich auch die letzten unruhigen Patienten sediert waren und alles still war.
Leise hüllte er sich in die dünne Decke, die am Fuß seines Bettes hing. Dann zog er mit zusammengebissenen Zähnen die Infusionsnadel aus seiner Armbeuge und presste die Lippen auf die Wunde. Aufgrund seiner fehlenden Hand blieb ihm nichts anderes übrig, doch zum Glück ließ der Geschmack von Blut rasch nach.
Ein letztes Mal wappnete er sich innerlich, zog dann mit einem Ruck die Elektroden von seiner Haut und rannte so schnell er konnte zum Fenster.
Dass sein Zimmer mehrere Stockwerke hoch lag, hatte er bereits mitbekommen, als der Choleriker bei einem seiner Anfälle versucht hatte, die Vorhänge aus undekorativem Plastik herunterzureißen. Sein einziger Vorteil jetzt war, dass das Personal nicht wusste, was er vorhatte.
Im vollen Lauf packte er einen Sessel und schleuderte ihn mit aller Wucht, die er aufbringen konnte, gegen die Scheibe. Das Glas splitterte klirrend und ein glitzernder Splitterregen fiel mitsamt dem Stuhl in die Tiefe. Haron wandte sich von dem Schauspiel jedoch unbeeindruckt ab.
Ungeachtet seiner Schmerzen ließ er sich zu Boden fallen und schob sich unter das am nächsten stehende Bett, auf dem ein kahlköpfiger, von roten Flecken übersäter Mann schlief, vollgepumpt mit Medikamenten.
Während Haron noch versuchte, seinen aufgeregten Atem zur Ruhe zu bringen, ertönten vom Gang her bereits Schritte. Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen und grelles Licht flutete den Raum, als der Schalter betätigt wurde. Wie erwartet hatte das Entfernen der Elektroden einen Alarm über fehlende Lebensfunktionen ausgelöst, und hier kamen die Retter in der Not.
Haron konnte von seiner Position aus nichts erkennen, hörte aber die Stimmen zweier Personen, die er glaubte, einer Ärztin und einem Pfleger zuordnen zu können.
„Verdammt. Ist der aus dem Fenster gesprungen?“ Das war die Frauenstimme, die aus der Richtung seines eigenen Bettes kam.
„Er muss direkt durch die Scheibe hindurch sein. Ich dachte, die wären aus bruchsicherem Glas?“, erwiderte der Mann, erschreckend nahe an Harons Füßen.
„Nein, wie kommst du darauf? Das wäre doch viel zu teuer, das ganze Gebäude mit Sicherheitsglas auszustatten.“ Die Frau schien jetzt ebenfalls an das Fenster getreten zu sein. Haron konnte das leicht minzige Parfum riechen, das sie aufgetragen hatte. „Die Fenster sind aus Sicherheitsgründen verriegelt, aber das Glas ist nichts Besonderes.“
Sie fluchte leise und leidenschaftslos, ehe sie hinzufügte: „Sieht aus, als müssten wir ihn von dort unten aufkratzen. Sieh zu, dass ein Reinigungstrupp sich darum kümmert.“ Mit diesen Worten verließ sie den Schlafraum und überließ es dem jungen Mann an ihren Fersen, das Licht zu löschen.
In seinem Versteck atmete Haron erleichtert auf. Vorsichtig schob er sich unter dem Bett hervor und schlich lauschend zur Tür, hinter der die Schritte der beiden allmählich leiser wurden, während sie sich entfernten.
Die Kosten für eine kaputte Scheibe und einen voraussichtlich demolierten Stuhl waren nichts im Vergleich dazu, was sein weiterer Aufenthalt hier verschlingen würde. Er schätzte, dass die Gänge kameraüberwacht waren, was bedeutete, dass er den direktesten Weg hinaus finden musste. Die Schwierigkeit bestand allerdings darin, dass er zeit seines Lebens und besonders bei seinem momentanen Aufenthalt keinen Schritt in diesem Bereich der Klinik gemacht hatte – alles, wo ein
Weitere Kostenlose Bücher