Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
Gang, der sich hinter der Tür erstreckte, selbst den aufmerksamsten Passanten und aufdringlichsten Verfolgern verborgen.
Maretha winkte ihn hindurch und verschloss den Eingang hinter ihnen sorgsam, ehe sie sich an ihm vorbei durch den engen Gang schob und einmal mehr voran ging.
Der Tunnel änderte mehrmals Richtung und Form und führte beständig bergab. Dabei war er durchgehend zu niedrig, um ein einfaches Vorankommen zu erlauben. Bis der Durchgang sich endlich zu einem großen, höhlenartigen Raum verbreiterte, schmerzte Harons Rücken bereits unerträglich durch die gebückte Haltung, zu der ihn sein bulliger Körperbau gezwungen hatte. Aber auch jetzt ließ er sich von seinen Strapazen nichts anmerken.
Nach der nahezu absoluten Dunkelheit, die in dem Tunnel geherrscht hatte, brannte selbst das schmutzige Licht der Höhle in seinen Augen. Mit seiner unversehrten Rechten wischte er Schweiß und Tränen aus dem Gesicht. Was er dann sah, ließ ihn jedoch vor Staunen sein eigenes Elend vergessen.
In die unregelmäßigen, teilweise aus nackter Erde oder grobem Beton bestehenden Wände waren Treppen, Nischen, Höhlen und Gänge getrieben, er konnte mehrere größere Ausgänge in ähnliche Räume erkennen. Manche der Nischen waren mit einfachen Vorhängen aus Stoffen oder Plastik zu Behausungen umgewandelt worden. An anderen Stellen hatten die Bewohner Gerüste und Verschläge gebaut aus Gesteins- und Betonbrocken, Metall- und Kunststoffplatten, Stangen und allem, sie sonst hierherschleppen hatten können.
Es sah aus, als hätte jemand ein längst vergessenes Kanalisationssystem als Ausgangspunkt für den Bau einer atemberaubenden und zugleich obszön wirkenden unterirdischen Stadt benutzt.
Männer und Frauen gingen hier emsig Beschäftigungen nach, die für Haron überaus befremdlich wirkten. Einige wenige waren von Kopf bis Fuß verhüllt, doch die meisten trugen ihre Verletzungen und Narben offen zur Schau. Dazwischen konnte Haron Kinder ausmachen, die lärmend umherjagten oder den Erwachsenen bei der Arbeit halfen.
So fremdartig diese merkwürdige Gesellschaft auch schien, so war doch eines leicht auszumachen: Egal, wie schlimm manche der Leute zugerichtet waren, jeder von ihnen leistete auf seine Weise einen Beitrag zu dem für Haron undurchschaubaren Alltag. Niemand war überflüssig oder eine Last.
Maretha führte ihn immer weiter hinunter, vorbei an Trögen, in denen Wäsche eingeweicht wurde, riesigen Töpfen, in die mehrere Personen Undefinierbares warfen, um daraus scheinbar eine Mahlzeit zuzubereiten, und Tiegeln, in denen übelriechend schwarze Farbe vor sich hin köchelte.
An manchen Arbeitsstellen brannten kleine Lichter, bei denen eine Flamme an einer trüben Flüssigkeit leckte, einige wenige hatten akkubetriebene Strahler. Am häufigsten fanden sich jedoch kleine Behälter, in denen eine merkwürdige Pflanze schwamm. Diese verbreitete das schmutzig gelbe Licht, das charakteristisch für diese Höhlenstadt zu sein schien.
Überall wurden Arbeiten unterbrochen, wenn sie vorbeikamen. Die Leute betrachteten Haron neugierig, doch er stellte fest, dass ihm ihre Blicke keineswegs unangenehm waren. Man besah seine Muskeln mit Interesse, seine Wunde mit Achtung und sein Gesicht mit dem Bedürfnis, es wiederzuerkennen. Aber niemand hatte das Mitleid im Blick, das besagte: Als Toter hättest du es allen einfacher gemacht, vor allem dir selbst.
Schließlich gelangten sie zu einem der mit Tüchern verhangenen Eingänge. Maretha bedeutete ihm zu warten und verschwand hinter der behelfsmäßigen Tür. Er konnte sie drinnen leise mit jemandem sprechen hören, aber der schwere Stoff verschluckte die Bedeutung der Worte. Kurz darauf hob sie der Vorhang von innen an und winkte ihn in den überraschend großen und sauberen Raum, dessen Mitte ein wuchtiger, stählerner Tisch einnahm. Haron unterdrückte ein Schaudern, als er darin Löcher und Rinnen erkannte, die für nichts Anderes als abfließendes Blut gedacht sein konnten.
Dann erst bemerkte er den hochgewachsenen Mann, dessen grauer Bart sein Alter verriet. Weitere Anzeichen dafür verschwanden in den ornamentartigen Narben, die Gesicht, Arme und Oberkörper bedeckten und dann unter der weiten Hose verschwanden, die sein einziges Kleidungsstück darstellte. Haron konnte sehen, dass an den nackten Füßen mehrere Zehen fehlten, was den Alten allerdings nicht zu behindern schien.
Er nickte Haron mit ernstem Blick zu und stellte sich als Xenos vor.
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