Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
erreichen war. Nach und nach suchten sie sämtliche Gebetsstätten auf, doch nicht alle Priester waren den Wegen, abgeneigt, die der neue Abt einschlug. Viele waren nicht daran interessiert, einen vermeintlichen Tyrannen zu stürzen, solange er sie nicht selbst bedrohte.
Atlan dagegen verfolgte mit Sorge die Nachrichten. Die eintönigen Wirtschaftsberichte und Werbeeinschaltungen, die bisher Noryaks Fernsehsender geprägt hatten, waren in den Hintergrund gedrängt worden. Brandstiftung, Überfälle, Einbrüche – jetzt zeigten die Bildschirme ein Verbrechen nach dem anderen. Und immer noch sprach niemand offiziell die Vermutung aus, die jeder längst in sich trug. Nur geflüstert vernahm man manchmal das früher abfällig, jetzt ehrfürchtig gebrauchte Wort: Puristen.
Xenos beobachtete die Bilder, die an jedem Monitor der Stadt zu sehen waren, und musste sich eingestehen, einen furchtbaren Fehler begangen zu haben. Als dieser Wichtigtuer verlangt hatte, von jetzt an mit Haron zu verhandeln, hatte er geahnt, worauf er damit hinauswollte. Obwohl der junge Priester früher bei seinen Gesprächen mit Seru immer nur stumm in der Ecke gestanden und ihn mit seinen Rattenaugen fixiert hatte, hatte Xenos ihn durchschaut, schon bevor sie ihr erstes Wort miteinander gewechselt hatten.
Er hatte auch gewusst, wie viel Wut und Schmerz in seinen eigenen Leuten steckte. Aber er hatte an das Gute in ihnen geglaubt. Niemals hätte er gedacht, dass sie Haron so blind folgen würden.
Seit Nioves Blut geflossen war und durch seine Einwilligung auch an seinen eigenen Händen klebte, hatte Xenos nach einem Weg gesucht, Haron zu unterwandern. Als Lorio meinte, ihn erpressen zu können, hatte er geglaubt, zwei Probleme mit einem Schlag lösen zu können.
Er hatte erwartet, dass seine Leute Haron von selbst verstoßen würden, wenn er sie zu neuem Blutvergießen auffordern würde.
Erneut flammte die Aufnahme eines brennenden Geschäftes über die Fassade auf der anderen Straßenseite und erhellte die trübe Nacht. Auf dem Bildschirm zwei Häuser weiter zeichnete sich einmal mehr Nioves Leichnam unter blutigen Laken ab.
Wie hatte er sich so in ihnen täuschen können? Wie hatte er die Mordlust in ihren Augen nicht sehen können?
Bisher hatte es kein weiteres Opfer gegeben, sie hatten sich mit Raubzügen und Zerstörungsakten begnügt. Aber wie lange noch? Mittlerweile erkannte er die Gier nach Blut, die sie in sich trugen. Nicht länger nur nach ihrem eigenen, sondern nach dem Blut der Welt.
Xenos dachte an den Frieden, den er ihnen hatte bieten wollen. Er fragte sich, wie oft in seinem Leben er noch würde falsche Entscheidungen treffen müssen, bis er es ein einziges Mal schaffte, das Gute zu bewirken, das er eigentlich im Sinn gehabt hatte.
10. Kapitel
Immer noch hielten sich die Vermummten von Atlans Gebetsstätte fern. Den Gesprächen der anderen Priester entnahm er, dass seit dem Beginn der Anschläge auch vor ihren Türen nur noch selten die Lumpengestalten der Puristen auftauchten. Wie es aussah, hatten sie dank der Unterstützung des Klosters eine brutale und vielversprechendere Art gefunden, um sich selbst zu versorgen.
Atlan hatte es nicht über sich gebracht, den Grund für seinen persönlichen Groll preiszugeben und damit Nioves Geheimnis zu verraten. Aber er befürchtete, dass den Reinen ihre Beutezüge nicht lange genügen würden. Vor allem, wenn die Exekutive endlich anfing, stärker dagegen vorzugehen.
Aus Istors und Helbars Häusern waren Gläubige verschwunden, einige davon waren kurz darauf als Verhüllte wieder aufgetaucht. In den radikaleren Gebetsstätten war die Zahl der Überläufer weit höher. Bald würde der Hunger die Puristen wieder an Atlans Schwelle führen, und wie sollte er dann dem Sturm in seinem Inneren standhalten?
Doch nicht nur seine Gedanken kreisten unaufhörlich um die Entwicklung, die sich in ihren Anhängern und dem Kloster vollzog.
„Wisst ihr“, murmelte Helbar eines Abends, als sie nach den Messen beisammensaßen und Trübsal bliesen, „die Welt hat eine seltsame Wendung genommen. Wir widmen unser Dasein dem Lindern von Hunger und Leid, dem Helfen der Kranken und Verletzten, die sich nicht mehr selbst helfen können.
Und dann kommt ein junger Kerl daher – nichts für ungut, Atlan – aber dann kommt ein junger Kerl, und heuert Leute an, um noch mehr Unglück zu schaffen. Dieser Kerl sollte eigentlich auf unserer Seite stehen, was das Ganze schon ziemlich
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