Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
erst fasste er seine Gedanken zusammen.
„Was macht dich so sicher, dass sie die Wahrheit sagt? Deinen Namen könnte sie überall aufgeschnappt haben. Das ist kein Beweis, dass diese Frau deine Mutter ist.“
„Aber …“ Selbst im Halbdunkel der nächtlichen Gebetshalle war die Verwirrung deutlich auf dem Gesicht des Priesters zu sehen. „Ich habe mich an ihr Gesicht erinnert, meine Träume …“
„Du warst vier Jahre alt, Atlan! Hättest du dich denn ohne ein Treffen an ihr Aussehen erinnert?“ Das Schweigen, das er als Antwort erhielt, war ihm Bestätigung genug. „Nein, hättest du nicht. Hätte ich dir eine beliebige Bettlerin auf der Straße gezeigt, die vielleicht auch noch grüne oder blaue Augen hat, dann hättest du auch ihr Gesicht mit deinen Träumen assoziiert.“
Atlan wirkte wenig überzeugt, also griff Istor zu einer anderen Taktik.
„Was ich damit sagen will ist Folgendes: Ob sie deine Mutter ist oder nicht, wirst du so leicht nicht herausfinden. Deine Träume sprechen für die Möglichkeit, dass deine Wurzeln bei den Reinen liegen. Aber sie könnten genauso gut etwas vollkommen anderes bedeuten.
Tatsache ist, dass eine wildfremde Frau Forderungen stellt, indem sie dir ins Gewissen redet, und das zu einem politisch äußerst heiklen Zeitpunkt. Selbst wenn sie deine Mutter wäre, hat sie ihren eigenen Weg schon lange gewählt. Du bist nicht für sie verantwortlich. Und offenbar fehlt es den Puristen nicht an Möglichkeiten, sich selbst zu versorgen. Sprengstoff konnten sie schließlich auch besorgen.“
Unglücklich nickte Atlan. Seine schnelle Kapitulation zeigte Istor, dass er ähnliche Gedanken bereits selbst gehabt hatte, aber vor den daraus folgenden Konsequenzen zurückgeschreckt war.
„Die kommende Zeit wird viel Leid bringen. In einem Punkt haben die Medien Recht: Niemand ist sicher. Die Situation wird eskalieren, und wir müssen der Fels in der Brandung sein, an den sich unsere Gläubigen wenden können. Wir können es uns nicht leisten, Spenden an Mörder zu vergeuden, wenn keiner vorhersagen kann, wie lange wir noch die Mittel haben werden, um sie zu verteilen.“
„Aber wir haben doch mehr Mittel als jemals zuvor …“
„Und woher kommen die? Bald wird es niemanden mehr geben, der es sich leisten kann, uns zu unterstützen. Stattdessen werden immer mehr kommen, die unsere Hilfe brauchen. Auf sie müssen wir uns konzentrieren. Für sie müssen wir unsere Vorräte einteilen.“
Er legte dem Jüngeren eine Hand auf die Schulter, eine Geste, die zugleich tröstend wirkte, als auch die zitternde Schwäche des alten Priesters offenbarte.
„Der Krieg ist gekommen, mein Junge. Lass dich nicht weiter darin verwickeln, als du es ohnehin bereits bist.“
Atlan war nicht der Einzige, dem die Bilder einen Schlag versetzt hatten. Auch Altrus war in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen. Es war nicht allzu schwer zu erkennen, was die „Informationsbeschaffung“ gewesen war, die Tiriot im Center betrieben hatte.
Umso schlimmer plagten ihn seine Schuldgefühle, seit Barea tränenüberströmt aus der Fabrik nach Hause gekommen war, in der sie ihre Schicht abgearbeitet hatte. Das einstürzende Center hatte das Wohnhaus zerstört, in dem die Schwester seiner Frau eine kleine Wohnung gehabt hatte. Sie war alles an Familie gewesen, das Barea noch geblieben war, und sie konnte sie nicht erreichen.
Sie hatte in der Nachtschicht gearbeitet. Mit großer Wahrscheinlichkeit war auch sie unter den zahlreichen Opfern des Anschlags. Ebenso wie das Kind, das Altrus und Barea in wenigen Wochen aus dem Center hatten abholen wollen. Mit Gewissheit konnte man nichts sagen. Selbst wenn die Trümmer irgendwann fertig abgetragen waren, war von den Personen, die sich in den beiden Gebäuden aufgehalten hatten, nicht genug übrig, um sie zu identifizieren.
Hätte er all das verhindern können, all die Menschen retten? Oder wäre er dann nur einer der vielen namenlosen Toten gewesen? Hätte man ihn zum Schweigen gebracht, wenn er nicht eingewilligt hätte?
Altrus machte sich diesbezüglich wenig vor. Er hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl bei der Sache gehabt. Zuzutrauen war Tiriot offensichtlich vieles. Die fadenscheinige Begründung der Informationsbeschaffung hatte Altrus nur geglaubt, weil er sie glauben wollte. Einem alten Freund einen kleinen Gefallen tun, ein paar Tage freinehmen – was war schon dabei? Das Geld, das Tiriot ihm dafür zugesteckt hatte, hätte Barea freie Zeit
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