Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
gedrückt, schallte Istors Stimme aus dem Lautsprecher.
„Junge, schalt sofort die Nachrichten ein. Wir leben im Krieg!“
Ein metallisches Klicken verriet das Ende der Verbindung. Der Priester hatte aufgelegt.
Atlan starrte immer noch auf die Leuchte, die das aktive Gespräch angezeigt hatte und jetzt wieder erloschen war. Krieg? Was sollte das bedeuten?
Mit fahrigen Händen drückte er auf der Fernbedienung herum, bis sich der Bildschirm an der Wand aktivierte. Bilder eines qualmenden Schutthaufens erschienen auf dem Monitor. Über all dem verkündete eine monotone Stimme, dass sich Puristen zu dem Anschlag bekannt hatten, der einen Schaden in Milliardenhöhe verursacht hatte. Man sah zwei nur oberflächlich verhüllte weibliche Gestalten, die vor Narben nur so strotzten und etwas Schwarzes warfen. Eine gewaltige Explosion war die Folge, Blutspritzer trafen das Bild der Kamera.
Atlan sah keine Veranlassung, sich diesen Bildern weiter auszusetzen. Er wollte abdrehen, doch ein abrupter Bildwechsel ließ seinen Finger nur wenige Millimeter über der Taste verharren. Der Schutthaufen war verschwunden, stattdessen sah er die Leichen.
Sie lagen noch, wo sie gefallen waren, in ihren eigenen Blutlachen, die sich mit dem Staub des Gebäudes vermischten. Mitleidslos zeigten die Bilder jedes grausame Detail – abgerissene Gliedmaßen, Eingeweide, die auf den Boden gerutscht waren, Knochensplitter und undefinierbares Gewebe. Und die Gesichter, blass und leer, wenn sie nicht zerfetzt und blutig waren von der Explosion und den Trümmern, die davon aufgeschleudert worden waren.
Aber das war es nicht, was Atlan innehalten hatte lassen.
Es waren die Lebenden, die neben den Toten kauerten, sie notdürftig mit Jacken und Tüchern bedeckten. Trauernde Angehörige, die schrien und weinten, sich hilflos vor und zurück wiegten oder an die Verstorbenen klammerten. Er kannte einige der Gesichter. Er kannte diese Reaktionen. Noch bevor die eintönige Stimme die Informationen herunterrasselte, wusste er, was geschehen war. Wusste, was diese Bilder zeigten: Natürlichgeborene, die von Puristen niedergemetzelt worden waren.
Mit gleichgültigem Klang erläuterte die Stimme: „Die Ausschreitungen haben ein neues Maß an Zerstörung erreicht. Auch mitten am Tag, in den Arbeiterschichten und den eigenen Häusern ist niemand mehr sicher. Wir wiederholen: Niemand ist sicher.“
Atlan hatte keine Gelegenheit mehr, den Bildschirm zu deaktivieren. Mit Mühe und Not schaffte er den Weg zur Toilette, ehe er sich in das desinfizierte Stahlbecken erbrach.
Er würgte immer noch Galle hoch, als es an der Hintertür klopfte. Zwei langsame Schläge. Pause. Drei schnelle, leichte Klopfer. Das Zeichen, das er mit seiner Mutter vereinbart hatte.
Eisige Kälte breitete sich schlagartig in seinem Inneren aus. Auf allen Vieren kroch er zur Tür, doch er sah sich nicht in der Lage, zu antworten. Körperlich und seelisch am Ende, presste er sich an die Wand und betete. Stumm wiederholte er immer wieder die Worte „Bitte Gott“, ohne zu wissen, worum er eigentlich bat. Er konnte sich einfach nicht dazu überwinden, den Riegel zur Seite zu schieben und sie einzulassen.
Drei Mal klopfte sie, sicher eine Angelegenheit von wenigen Minuten, doch Atlan erschienen sie wie eine Ewigkeit. Als er endlich erkannte, dass kein weiteres Signal mehr kommen würde, legte er den Kopf auf seine Knie und weinte in bitterem Selbstmitleid.
„Atlan?“ Verblüfft blinzelte Istor gegen die Müdigkeit an. Es war mitten in der Nacht, und der junge Priester hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Eigentlich hätte er verärgert sein müssen, aber Atlan bot einen erbärmlichen Anblick.
„Was machst du denn hier? Bist du krank? Du siehst gar nicht gut aus.“
„Ich brauche deinen Rat, Meister. Ich weiß nicht mehr weiter.“ Obwohl Atlan kaum mehr als ein Murmeln zustande brachte, war seine Verzweiflung nicht zu überhören.
Istor war zu verwundert, um ihn zum Weiterreden aufzufordern, doch Atlan schien davon keine Notiz zu nehmen. Nachdem er nun endlich den Mut gefasst hatte, um Hilfe zu bitten, fand sein Wortschwall so schnell kein Ende. Mit bebender und leiser Stimme erzählte er von der Begegnung mit seiner Mutter, von der Vereinbarung, die sie getroffen hatten, seinem Verrat an den eigenen Prinzipien, und von seinem Unvermögen, sein Wort ihr gegenüber zu halten.
Der alte Priester hörte schweigend zu, bis sein junger Freund ins Stocken geriet und verstummte. Dann
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