Das Unkrautland | Auf den Spuren der Nebelfee
der großen Holzfässer. Gelangweilt blickte er an die gewölbte Backsteindecke, folgte mit den Augen den Spinnweben von einem Fass zum nächsten und ließ seinen Blick über die Wände bis runter zum Boden wandern. Dort stockte er. Denn mitten auf dem Boden dieses quadratischen Raums fiel ihm, unter dem flackernden Schattenwurf der Laterne, ein großes Zeichen auf, das exakt und messerscharf in die Steinplatten gehauen war. Er hob den Kopf und blickte das Zeichen nachdenklich an. Natürlich war es ihm schon vor Jahren einmal aufgefallen, schließlich wohnte er in diesem Turm. Aber er hatte nie herausgefunden, was es damit auf sich haben könnte. Irgendwann hatte er es dann einfach vergessen.
Jetzt aber rutschte er langsam auf den Knien vorwärts und blies den Staub aus den Rillen. Anschließend stand er auf und schlich in Gedanken versunken um das Zeichen herum. Es war ein großer Kreis von etwa zwei Schrittlängen Durchmesser. Im Inneren befand sich ein verwirrendes Muster, das aussah wie ein Geflecht aus Algen oder Schlingpflanzen. Um den Kreis herum war in einem geringen Abstand ein weiterer, aber wesentlich stärkerer Halbkreis gezogen, dessen Enden spitz zuliefen. Es schien, als umklammere eine dünne Sichel die seltsame Kreiskonstruktion, die von einem verworrenen Tragwerk ausgesteift wurde. Nachdem er das Zeichen lange von allen Seiten betrachtet hatte, ging er in die Hocke. Gedankenlos fuhr er mit dem Finger die Rillen entlang. So vergingen die Stunden.
In den kommenden Tagen kletterte er auch ab und zu auf eines der Fässer, um das Zeichen von oben zu begutachten. Meistens dauerte es nicht sehr lange, bis Primus dabei müde wurde, sich bäuchlings auf dem Fass ausstreckte und irgendwann einschlief.
Sobald aber der Abend kam, flog er schleunigst die Treppe zum Kaminzimmer hinauf, segelte mit einem JUHUU aus dem Fenster und schnappte flatternd im Garten nach frischer Luft. Auch Snigg hatte offensichtlich unter der Hitze zu leiden und sah furchtbar zermatscht aus. Primus machte ihm ab und zu im Vorbeifliegen Komplimente wie: »Schön braun bist du geworden« … und brauste davon.
Während der sonnigen Tage war das Gras auf den Hügeln der Nebelfelder üppig gewachsen und dichtes Schilf umgab den Schneckenbach. Im Nordosten lag der große Mondwassersee, der sich eng an den Rand des Finsterwaldes anschmiegte. Eifriges Treiben herrschte dort in jenen Tagen, da sich viele Waldbewohner um das Seeufer scharten, um der unangenehmen Luft im Wald zu entkommen. Bereits von weitem war das Gequake der Kröten zu hören, wenn Primus seine Runden zog. Kreuz und quer flatterte er am See durch die Schilfrohre, flog am Südrand des Finsterwaldes entlang, bevor es gleich wieder über den Schneckenbach in Richtung Turm zurückging. Für alles Weitere war er, nach solch anstrengenden Tagen im Keller, viel zu faul. Primus dachte nicht einmal im Entferntesten daran, die Klettenheimer zu besuchen. Daher dauerte es auch heute nicht lange, bis er seinen Ausflug beendet hatte und wieder zum Dachfenster hereingeflogen kam.
Die Nacht war sternenklar. Es war eine Neumondnacht, wie sie funkelnder nicht hätte sein können. Alle Fenster des Dachgeschosses standen offen, während Primus seitlich auf dem Bett lag und in einem dicken Buch las. In dieser Nacht konnte er besonders gut lesen, da er einen leuchtenden weißen Stein auf den Bettpfosten gelegt hatte, der den ganzen Raum in ein angenehm helles Licht tauchte. Diese Art der Beleuchtung war wesentlich komfortabler als das übliche Kerzenlicht, aber leider leuchtete der Stein nur einmal im Monat. Ansonsten war das Ding völlig nutzlos und lag die restliche Zeit mit anderem Krempel in der großen Truhe neben dem Bett.
Primus hatte den fremdartigen Stein vor Ewigkeiten einmal irgendwo im Wald gefunden und mitgenommen. Der Stein war spitz und dreieckig, ähnlich einem schmalen, aber sehr hohen Tortenstück. Nur wer ganz genau hinsah, konnte erkennen, dass dieses keilförmige Stück ein wenig gekrümmt war. In all den Jahren hatte Primus niemals einen ähnlichen Stein gesehen. Das leuchtende Material schien seltsam trüb, so wie eine erstarrte milchige Flüssigkeit oder das schimmernde Wachs knapp unterhalb einer Kerzenflamme. Seine Ober- und Unterseite waren absolut glatt geschliffen und wie von Meisterhand poliert. Es gab nicht die geringste Unebenheit. Das Gleiche galt auch für die beiden gekrümmten Seiten, die darüber hinaus mit einem hauchdünnen Muster aus verschlungenen
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