Das Unkrautland | Auf den Spuren der Nebelfee
aufgeregt und schoss nach den vielen Windungen der Treppe mit einem gehörigen Drehwurm ins Turmzimmer hinein.
Der Raum hatte eine quadratische Form und verfügte über drei spitze Fenster. Zwei davon zeigten nach Südwesten zum Schneckenbach und das dritte blickte von der gegenüberliegenden Wand nach Nordosten. Dort war auch eine Tür, die nach draußen auf einen Balkon führte. Das kleine Turmzimmer war vollgestopft mit wissenschaftlichen Geräten verschiedenster Art und glich auf den ersten Blick mehr einer Rumpelkammer als einem Arbeitszimmer. Überall standen Mikroskope oder Messlatten herum. Blechmodelle von Himmelskörpern lagen auf dem Boden oder hingen an Drähten von seltsamen Apparaturen herunter. Es gab Sonnenuhren, Rechenschieber, eigenartige Kalender, von Riemen betriebene Maschinen sowie eine Unzahl anderer Geräte, die kaum noch sichtbar waren, da sich haufenweise zusammengerollte Pläne und Karten darüber stapelten. Unter einem Berg von Büchern, Metallfedern und anderem Zeug befand sich ein großer Holztisch, über dem mehrere Sternkarten baumelten. Das einzige Gerät, das von jeglichem Plunder freigeräumt war, war ein riesiges Fernrohr mit zahlreichen Handrädern und Hebeln. Dieses stand vor dem Fenster neben der Tür – und genau darauf steuerte Primus schnurstracks zu.
Er verwandelte sich zurück in Menschengestalt und blickte durch das Fernrohr in die Nacht. Allerdings war das alte Instrument weder richtig eingestellt noch zeigte es in die Richtung, in der er die Kobolde vermutete. Er drehte daher einige Male am Objektiv, bis er überhaupt etwas erkennen konnte. Ungeduldig schwenkte er das Fernrohr hin und her, bis ihm nach einiger Zeit ein unscharfer Lichtfleck vor die Linse kam. Das mussten sie sein! Eilig schraubte er weiter, bis sich ein klares Bild abzeichnete.
Aber was war denn das? Primus zwinkerte. Bei dem Lichtfleck handelte es sich keineswegs um die heiteren Kobolde, denn dafür hatte er das Fernrohr in seiner Hektik viel zu weit nach rechts gedreht. Das Fernrohr zielte stattdessen genau auf den dunklen Mondwassersee, auf dem ein kleines Ruderboot schwamm. Am Heck des Bootes hing eine Öllampe. Die Sterne spiegelten sich in der pechschwarzen Wasseroberfläche, die, bis auf ein paar kleine Wellen, gespenstisch glatt war. Aber es war weniger das Boot, weswegen er sich Gedanken machte, sondern vielmehr die große Person mit dem schwarzen Umhang, die gebückt in jenem Ruderboot stand.
Wie gebannt starrte die Gestalt in das tiefe Wasser. Primus runzelte die Stirn. Diese Szene wirkte doch mehr als seltsam.
»… wer ist das?«, hauchte er. »… was macht der da, mitten in der Nacht?«
Es sah beinahe so aus, als würde sich diese Person mit aller Intensität auf das Wasser konzentrieren – oder noch zutreffender:
»… der sucht etwas …«, flüsterte Primus.
Aber sosehr er sich auch bemühte, leider konnte er kein Gesicht erkennen, da eine Kapuze den Kopf der Gestalt verhüllte. Das einzige Detail, welches ihm auffiel, war eine schlanke Hand mit einem breiten Ring am Mittelfinger, die den Umhang zusammenhielt. Primus drehte langsam und mit spitzen Fingern am Objektiv, um näher an die Szene heranzufahren, als plötzlich eine dunkle Stimme aus dem Hintergrund ertönte:
»Und wonach suchst du gerade, mein Kleiner?«
Primus zuckte zusammen. Vor lauter Schreck verschob er das Fernrohr.
»Nach nichts Besonderem«, schnaufte er, »und verflixt noch mal, erschreck mich nicht so.«
Er schwenkte das Fernrohr, als ihm plötzlich die Lichterkette der Kobolde ins Blickfeld rutschte.
»Hast du vielleicht irgendetwas Seltsames da draußen gesehen«, sprach die Stimme weiter, »oder versuchst du immer noch, die Tür zum Reich der Kobolde zu finden?«
Primus wandte den Kopf. Er hob das Kinn und blickte an die gegenüberliegende Wand. Dort hing, inmitten der fensterlosen Steinmauer, ein gewaltiger Spiegel mit einem Rahmen aus pechschwarzem Ebenholz. Der Spiegel hatte geschliffenes Glas, war überaus hoch und wurde nach oben hin breiter. Aber zweifellos waren es die Schnitzereien des Rahmens, die den Spiegel zu etwas Außergewöhnlichem machten. Sie waren so raffiniert gearbeitet, dass es aussah, als würde die Scheibe in einem großen Umhang stecken, der von zwei knochigen Händen aufgehalten wurde. In wilden Falten schwang sich das schwarze Holz am Spiegelglas entlang, bis es abschließend wallend zum Boden hinabfiel. Ein markantes Gesicht mit spitzem Kinnbart und zwei Hörnern
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