Das unsichtbare Volk
ihren
Hochmut zu vergrößern.
„Du bist
garstig wie ein Mensch“, reagierte Fiolas Mutter, deren pädagogische Mittel
längst erschöpft waren, sodass sie sich immer öfter in Beschimpfungen und
Drohungen rettete.
„Na und?“,
sagte Fiola schnippisch, „dann bin ich eben garstig wie ein Mensch. Ich möchte
sowie lieber eine Menschenfrau sein als eine langweilige Lotosblume. Fiola
hatte noch nie die Bekanntschaft mit einem Menschen gemacht, aber sie stellte
sich das Menschenleben großartig vor.
„Das kannst du
haben“, rief Fiolas Mutter wutentbrannt, „du undankbare Kreatur.“
Sie rief den Zauberer
Malikari herbei, für den es eine der leichteren Übungen war, ungehorsame
Lotosblumen in Menschen zu verwandeln. Dass er die Kunst nur vorwärts, aber
nicht rückwärts beherrschte, verschwieg er dabei allerdings.
Aber Fiola
dachte auch gar nicht daran, in die monotone Welt der Lotusblumen
zurückzukehren, denn entgegen der Annahme ihrer Mutter und Tanten fand sie das
Leben unter Menschen ganz wunderbar.
Verhaltensweisen,
die in der Lotuswelt als ungehörig gescholten worden waren, wurden in der Menschenwelt
als Ausdruck eines gesunden Selbstbewusstseins hingestellt, Frechheiten und
Widerworte als Schlagfertigkeit und Selbstbehauptungswille gelobt. Zum ersten
Mal machte Fiola die Erfahrung, dass sie so sein durfte, wie sie gerne sein
wollte, und dafür auch noch bewundert wurde.
Noch größere
Bewunderung erntete sie aber für ihre exotische Schönheit und für eine
Eigenschaft, die keine Menschenfrau und kein Menschenmann sonst besaßen.
Fiola
brauchte, da konnte es noch so gießen und schütten, weder Regenmantel oder
Regenschirm, denn alles Wasser perlte von ihrer makellosen Haut ab. Zwar wurden
ihre Kleider und ihr schulterlanges Haar nass, aber ihre Haut wurde davon nicht
berührt. Es war, wie wenn eine dicke Isolierschicht zwischen den nassen
Kleidungsstücken und ihrem Körper eingerichtet worden wäre, sodass sie es immer
hübsch warm hatte, trotz Nebel, Kälte und Regen.
Nicht nur
Wasser stieß ihr Körper ab, auch jede Form von Ärger oder Stress. Solche
negativen Einflüsse von außen machten einfach vor ihr halt und erreichten nicht
ihr Inneres. So konnte Fiola immer gleichbleibend fröhlich, ausgeglichen und
optimistisch sein. Wen wundert es, dass sie wegen ihrer unter Menschen so
selten anzutreffenden Gemütsart bei allen überaus beliebt war. Was hätte sich
Fiola Besseres wünschen können.
Doch da war
noch etwas, was sie sich wünschte: einen Mann, den sie lieben und achten
konnte. Es war schwierig, unter den vielen Bewunderern den herauszufinden, der
es ehrlich meinte und nicht heuchelte und nur ihr Äußeres sah.
Endlich meinte
Fiola, den Richtigen in Tom gefunden zu haben. Tom war Gärtner im botanischen Garten,
zugegebenermaßen keine Spitzenposition, aber das war Fiola nur recht, denn sie
hätte es nicht ertragen können, wenn jemand ihr den ersten Rang abgelaufen hätte.
Im ersten Jahr
ihrer jungen Ehe kamen Fiola und Tom gut miteinander aus. Sie sonnte sich in
seiner Bewunderung und Ergebenheit, er genoss ihre Schönheit, doch dann machten
ihn zwei Beobachtungen misstrauisch.
Wenn Fiola ihn
im botanischen Garten besuchte, blieb sie jedes Mal auffällig lange am
Lotosteich stehen und verstummte. Wenn Tom dann fragte: „Du magst den Lotos
ganz besonders, nicht wahr?“, blickte sie nur traurig, beantwortete aber die
Frage nicht.
Und noch
merkwürdiger war, dass Tom noch nie gesehen hatte, dass Fiola badete oder sich
auch nur in seiner Gegenwart wusch. Dabei duftete sie betörend gut.
Seinen
Vorschlag, Urlaub am Meer zu machen, wies sie schroff zurück, und selbst ein
gemeinsames Duschbad kam für sie nicht infrage. Allmählich dämmerte es Tom,
dass ein dunkles Geheimnis Fiola umgab.
Er stand vor
der Wahl, es zu ergründen und dabei Gefahr zu laufen, Fiolas Liebe zu
verlieren, oder sie so zu akzeptieren, wie sie war: wasserscheu und in
Lotusteiche vernarrt.
Er entschloss
sich zu Letzterem, auch wenn es ihm schwerfiel, mit dem ungelüfteten Geheimnis
zu leben.
Tom stellte
fortan keine Fragen mehr, und Fiola dankte es ihm auf ihre Weise, indem sie
seine schönheitshungrige Seele noch viele Jahre mit ihrer makellosen Schönheit
erfreute.
Stimmsteuer
Die Tiere des Dschungels waren empört.
Gerade hatten die Papageien die neueste Schikane der Löwenregierung verbreitet.
Ab sofort würde von allen sprechenden Tieren eine Stimmsteuer erhoben werden.
25 Prozent
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