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Das unsichtbare Volk

Das unsichtbare Volk

Titel: Das unsichtbare Volk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diethelm Kaminski
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den Schlossruinen den Glassarg entdecken.
Sie befreien die lange Munitionskiste, für die sie den schmutzigen Sarg halten,
erst von Brombeerranken und Dornengestrüpp, dann von Schutt, Geröll und Staub,
bis sie ins Innere blicken können. Sie trauen ihren Augen nicht: eine strahlend
schöne Frau, so frisch und appetitlich, als habe sie sich gerade eben zu Bett
begeben.
    Die Kinder
klopfen, erst leise, dann immer lauter. Sie rufen, hämmern mit den Fäusten
gegen den Sarg. Die Frau rührt sich nicht. Sie versuchen, den Sarg zu öffnen.
Sie schaffen es nicht.
    „Wir müssen es
melden“, sagt Ante, ihr Anführer. „Finderlohn liegt allemal drin. Vielleicht
sogar doppelt. Vom Bürgermeister und dann noch von der reichen Tussi da drin.
Weil … wir holen sie doch ins Leben zurück.“
    „Und wenn sie
gar nicht will, dass wir sie zurückholen?“
    „Und ob sie
will. Sie kann nur nicht. Aus eigener Kraft schafft sie es nie aus dieser
Gruft. Möchte wissen, wer sie da eingesperrt hat.“
    „Das kann sie
dir dann ja selber sagen, wenn sie ausgeschlafen hat.“
    Die Kinder
meldeten den sensationellen Fund dem Bürgermeister, ernteten aber statt der
erhofften Belohnung nur Vorhaltungen: „Wisst ihr denn nicht, dass auf dem
Schlossgelände noch viele Blindgänger liegen. Sie hätten euch töten können.
Lasst euch dort nie wieder blicken.“
    Aber noch am
selben Tag ließ er den gläsernen Sarg abholen und ins Heimatmuseum
transportieren. Im größten und lichtesten Raum wurde der Sarkophag auf einem
mit blauem Samt beschlagenen Podest aufgestellt. Die Glaswände des Sarges
wurden so lange geputzt und poliert, bis sie blitzten wie Kristall. Nun konnte
die schöne Frau darin von allen Seiten bewundert werden.
    „Jetzt können
die Besucher kommen. Von nah und fern werden sie, von der Sehnsucht nach der
verloren gegangenen Monarchie getrieben, herbeiströmen und die leeren Kassen
unserer Stadt füllen“, rieb sich der Bürgermeister die Hände und sah sich
bereits wiedergewählt.
    „Ich kann mich
dunkel an die Geschichte erinnern, die meine Großmutter uns Kindern unzählige
Male erzählt hat – von einer Königstochter, die hundert Jahre in einem
gläsernen Sarg schlafen muss. Ich hätte nie geglaubt, dass es diese Prinzessin
tatsächlich gibt. Leider werden wir nicht lange Freude an ihr haben“,
lamentierte die Frau des Bürgermeisters.
    „Und warum
sollten wir nicht?“
    „Weil geweissagt
ist, dass nach Ablauf von hundert Jahren ein Königssohn kommen und sie
wachküssen wird. Und was willst du ihnen dann sagen, warum du sie verschleppt
hast? Und was willst du schon mit einem leeren Sarg?“
    „Wir könnten
dich ja z. B. hineinlegen. Wenn sie dich gut schminken und dir eine
schwarze Perücke aufsetzen, wird niemand die Ablösung bemerken. Wir lassen uns
jedenfalls das Geschäft nicht von irgendso einem hergelaufenen Prinzen
versauen.“
    Dennoch ließ
der Bürgermeister eine Alarmanlage im Museum installieren und Videokameras
anbringen. Er verstärkte den Wachdienst und verschärfte die Ausweiskontrollen.
Das Fatale war, dass niemand wusste, wie lange die Frau im Sarg schon schlief,
und wie viele Jahre noch vergehen würden, bis sich die Prophezeiung erfüllte.
Vielleicht auch würden die heute Lebenden diesen Tag gar nicht mehr erleben.
    „Jedenfalls
müssen wir die Kuh melken, solange sie noch Milch gibt“, sagte der
Bürgermeister, telefonierte aber trotzdem nach dem Stadtarchivar, um den
Gerüchten auf den Grund zu gehen.

Schonkost
     
     
     
    Der alte Wolf leckte sich die Lippen:
„Was für ein Leckerbissen. Appetit hätte ich schon auf dich, aber deine
Großmutter soll mir eine Warnung sein.“
    „Was ist mit
meiner Großmutter?“, fragte Rotkäppchen und kramte unauffällig in ihrem Korb
nach dem Messer, das sie eingepackt hatte, um damit den Kuchen zu schneiden.
Großmutter war sehr vergesslich geworden und legte die Haushaltsgeräte an den
unmöglichsten Orten ab – das Besteck in den Backofen und die Tassen in den
Abort. Da war es besser, man hatte alles dabei. Das ersparte langes Suchen.
    „Was soll
schon sein?“, klagte der alte Wolf. „Ich wollte sie fressen, auch wenn nicht
viel dran ist an alten Leuten. Von irgendwas ernähren muss sich auch ein alter
Wolf.“
    „Wehe, du hast
meiner Großmutter was angetan, dann kannst du was erleben.“
    „Ich habe ihr
nichts getan. Meine Augen sind auch nicht mehr die besten. Ich wollte mir einen
Happen von ihrem Bein holen, hab aber zu spät

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