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Das unsichtbare Volk

Das unsichtbare Volk

Titel: Das unsichtbare Volk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diethelm Kaminski
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niesen müssen, doch wusste er, was
das zu bedeuten gehabt hätte: die ganz große Katastrophe.
    Nun könnte man
meinen: Bei all den vielen Zwischenfällen im täglichen Leben würde Urban
pausenlos niesen müssen, aber dem war zum Glück nicht so, denn seine
hellseherische Fähigkeit war auf die eigene Familie beschränkt, und auch dort
nur auf den engeren Kreis, nämlich alle, die den Namen Panicky trugen, die in
die Familie Eingeheirateten inbegriffen. Viele waren das nicht: Eltern, zwei
verheiratete Schwestern, ein Neffe, eine Nichte und die beiden Schwiegersöhne,
die sich für den Familiennamen Panicky entschieden hatten, um von den Namen
Froschbein und Nothdurft erlöst zu werden. Großeltern und eine eigene Familie
besaß Urban nicht. Es war nicht bekannt, ob Urbans seltene Fähigkeit vererbt
worden war und auch andere Familienmitglieder sie besaßen. Urban sprach nie
über seine vorherseherische Gabe. Er sagte nie „Das habe ich gerochen“, denn er
litt unter der Gewissheit, zwar Unheil vorherzusehen, aber nicht eingreifen zu
können. Nachts weckte ihn mitunter das Nasenkribbeln, er nieste dreimal und
konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil er sich um seine Familie sorgte.
Morgens kam dann auch schon der Anruf: Seine Schwester Hanna hatte eine
Fehlgeburt. Oder er lag im Sommerurlaub entspannt auf Usedom am Strand. Seine
Nase begann zu jucken, immer heftiger. Urban konnte das Niesen nicht
unterdrücken. Was war geschehen? Urban rief besorgt seine Eltern an. Seine
Vater war die Treppe hinuntergestürzt und hatte sich den Oberschenkel gebrochen.
    Aus war es mit
der Erholung. Urban brach seine Zelte ab, um zu seinem Vater ans Krankenbett zu
eilen. Er wurde den entsetzlichen Gedanken nicht los, dass sein Niesen das
Unheil überhaupt erst auslöste. Denn dass er es im Voraus spürte, war ja nur
eine Vermutung. Vielleicht war es genau umgekehrt. Er hatte nie nachgeforscht,
wie viel Zeit zwischen dem Niesen und dem negativen Ereignis lag. Wie hätte er
das auch feststellen können. Kein Mensch schaut auf die Uhr, wenn er die Treppe
runterfällt oder einen Autounfall baut.
    Auf bloßen
Verdacht hin, ohne die Gewissheit, dass seine Vermutung sich bestätigen würde,
suchte Urban schließlich einen Hals-, Nasen-, Ohrenarzt auf. Er verschwieg
seine hellseherischen Kräfte, damit der Arzt ihn nicht für verrückt erklärte,
sondern klagte nur, dass er unter häufigem Niesen leide. „Wenn´s nichts
Schlimmeres ist“, tröstete ihn der Arzt, der am liebsten gesagt hätte: „Müssen
Sie mir wegen einer solchen Lappalie die Zeit stehlen? Nasenspray gibt es
rezeptfrei in jeder Apotheke“, aber welcher Arzt verprellt schon einen
zahlenden Patienten. Deshalb sagte er: „Ich verschreibe Ihnen ein ganz neues
Medikament. Ein hochwirksames Nasenspray. Morgens nach dem Aufstehen
eingesprüht, und Sie sind 24 Stunden niesfrei.“
    Das Medikament
schien zu wirken. Drei Wochen lang schon hatte Urban nicht mehr niesen müssen.
Seine Familie war wohlauf. Nicht das geringste Vorkommnis.
    Doch dann,
obwohl Urban wie jeden Morgen das Spray genommen hatte, spürte er plötzlich ein
leises Kribbeln in der Nase, das sich immer mehr verstärkte und sich
schließlich explosionsartig in einem gewaltigen Nieser entlud.

Süßer die Glocken
     
     
     
    Freiwillig zieht es mich nicht in die
Hauptstadt, aber alle paar Monate habe ich geschäftlich dort zu tun. Ich halte
mich nicht länger als notwendig auf, sondern sehe zu, dass ich möglichst
schnell wieder in meine ländliche Stille zurückkehre. Ich kenne die Hauptstadt
nur flüchtig, eigentlich nur das Zentrum mit der wuchtigen Kathedrale und der
Zentrale meiner Bank, der sich meine kleine Landmaschinenfirma auf Gedeih und
Verderb anheimgegeben hat und der ich gelegentlich einen Besuch abstatte, um
wieder einmal um die Stundung meiner Kredite zu betteln.
    Ich bin zu
früh. Deshalb bummele ich noch ein wenig durch die Innenstadt, komme
zwangsläufig auch an der Kathedrale vorbei, die das Zentrum beherrscht.
    Kurz vor
zwölf. Punkt zwölf pflegen die Glocken zu läuten, so laut, dass einem die Ohren
brummen. Doch heute ist es anders. Ein leises Summen hebt an, ein lang
gezogener Ton, der allmählich anschwillt, aber nicht wirklich laut wird, sanfte
Glockenschläge mischen sich hinein – verhalten, lockend, unwiderstehlich. Der
Platz vor der Kathedrale ist voller Menschen. Sie bleiben stehen, suchen in den
Taschen nach Taschentüchern, wischen sich die feuchten Augen. Tränen

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