Das verborgene Kind
sehr sie ihn liebte.
Lottie stellte Geschirr, Gabeln, die Teekanne und den Kuchen auf das Tablett und trug es in den Wintergarten. Pud folgte ihr auf dem Fuß. An der Tür zögerte sie. Venetia hatte ihren Stuhl nah an den von Milo herangezogen und saß so, dass ihre Knie seine berührten. Er barg ihre zarte, schmale Hand zwischen seinen warmen Pranken. Sie hatte die Augen geschlossen.
»Die arme alte Clara. Es ist alles so schrecklich hoffnungslos, nicht wahr, Milo?«, sagte sie gerade.
Er beobachtete sie. Seine Miene war zärtlich und nachdenklich, und Lottie wusste, dass er sich an die junge, schöne Venetia erinnerte, so wie er sie bei jener allerersten Begegnung gesehen hatte: als Frau seines vorgesetzten Offiziers Bernard – »Bunny« – Warren auf einem Ball in Sandhurst. Für einen Moment sah auch Lottie die beiden so vor sich: Venetia, die in ihrem Ballkleid glamourös und sexy wirkte, und Milo, hochgewachsen und hinreißend in seiner Gala-Uniform. Sie bemerkte, wie sie Hände schüttelten, den energiegeladenen Blick, den sie wechselten, und hörte das Lachen und Stimmengemurmel um sie herum, das Klirren der Gläser und den fernen Klang von Musik.
»Altwerden ist eben nichts für Feiglinge, Liebes«, sagte Milo jetzt und brach den Bann. Er schaute sich zu Lottie um und blinzelte ihr kaum merklich zu. »Da kommt der Tee.«
Venetia schlug die Augen auf, und Lottie stellte das Tablett auf den runden Tisch mit der Glasplatte. Sie fragte sich, ob Milo Venetia bitten würde, zum Abendessen zu bleiben. Lottie wusste, dass Matt nichts dagegen haben würde. Obwohl er seine Isolation und Privatsphäre schätzte und sie hütete, wenn er arbeitete, liebte er doch die offene, gastfreundliche Atmosphäre im High House , wenn er sich entspannte – und er mochte Venetia sehr. Lottie versuchte immer, Verständnis für die Ältere aufzubringen, wenn diese unter überwältigender Einsamkeit und Depressionen litt, die sie seit dem Tod ihres Mannes gelegentlich überfielen. Bei Milo dagegen lauerte hinter seiner aufrichtigen Zuneigung zu Venetia das instinktive Misstrauen des männlichen Geschlechts.
»Du darfst nicht zu weichherzig sein«, pflegte er zu sagen, wenn er argwöhnte, Lottie könne einem Wink von Venetia nachgeben. »Nun, nachdem der gute alte Bunny nicht mehr ist, musst du aufpassen, sonst zieht sie noch bei uns ein. Venetia ist hart im Nehmen. Sie weiß, was sie will, und sorgt dafür, dass sie es auch kriegt.«
»Dann kommt Matt also vorbei«, sagte Venetia gerade. »Ihr habt solches Glück, dass ihr die jüngere Generation in der Nähe habt. Imogen und Jules wohnen mit ihrem süßen Baby gleich auf der anderen Seite des Tals. Und Matt schaut so oft vorbei. Da sehen all diese schrecklichen Dinge schon nicht mehr ganz so übel aus, oder? Meine Kinder lassen sich gar nicht mehr blicken ...«
Lottie, die den Tee einschenkte, fing Milos Blick auf. Er zog eine Augenbraue hoch, und sie nickte.
»Bleib doch zum Abendessen!«, schlug er vor. »Wie wäre das?«
Hoffnungsvoll schaute Venetia zu Lottie auf. »Würde ich denn nicht stören? Was meint ihr, ob es Matt etwas ausmacht?«
Lottie schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Wirklich, bleib doch!«
»Aaah.« Venetia stieß den Atem aus, als sei sie von einer Sorge oder Angst erlöst, und lehnte sich im Sessel entspannt zurück. »Sehr, sehr gern.«
Nach dem Tee ließ Lottie die beiden allein und ging hinaus in den Garten, um Schneeglöckchen zu pflücken. Die Abendsonne warf lange Schatten über den Rasen; und um die Wurzeln der alten Birken blühten Krokusse und bildeten Kreise aus leuchtendem Gold und dunklem Blauviolett. Eine Amsel schoss im Sturzflug herab, und ihr abgehackter Warnruf hallte durch die Stille. Geister wohnten in dem Garten; die Geister von Menschen und Hunden, aber Lottie fürchtete sich nicht vor ihnen. Sie kannte sie alle und spürte, wenn sie in der Nähe waren; manche von ihnen waren ihr so nahe wie die beiden Menschen, die sie im Wintergarten zurückgelassen hatte. Sie konnte sich an keine Zeit erinnern, in der sie sich nicht der Existenz anderer Welten neben der ihren bewusst gewesen wäre. Als Kind hatte sie sich bei dem Versuch, ihre Gabe zu rationalisieren, Geschichten ausgedacht, Vorspiegelungen der Phantasie, die sie mit tatsächlichen Ereignissen verwoben hatte. Damit unterhielt sie ihre Schulfreundinnen – und jagte ihnen sogar Angst ein. Einmal, als sie sieben war, hatte der Vater einer Schulfreundin ihr vorgeworfen,
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